Nach 37 Jahren Polizist bricht sein Schweigen: Ich erschoss den Schleyer-Entführer !
Düsseldorf -Die Beklemmung ist mit Händen zu greifen, als Wolfgang M. (62) vor dem kleinen Laden auf der Oststraße steht.
Er zieht den Kopf tief zwischen die Schultern, atmet schwer.
Hier hat der Polizist vor mehr als 37 Jahren einen Menschen erschossen – den RAF-Terroristen und Schleyer-Entführer Willy Peter Stoll.
Diese Todesschüsse haben ihn nie mehr losgelassen und krankgemacht.
Der 6. September 1978: Wolfgang M. ist 24 Jahre jung und gilt als einer der besten Schützen der NRW-Polizei, trägt deshalb auch eine besondere Pistole, eine Neun-Millimeter-„Heckler und Koch“.
„An diesem 6. September meldete sich ein Zeuge, der Stoll gesehen haben wollte – aber solche angeblichen Sichtungen von Mitgliedern der RAF gab es in dieser Zeit fast täglich“, erzählt der damalige Streifenpolizist.
Wolfgang M. und ein Kollege werden in Zivil in das China-Restaurant „Shanghai“ geschickt, um die Lage zu sondieren – die uniformierten Kollegen wollen nachkommen.
„Ich sah Stoll, der an einem Tisch hinter einem Mauervorsprung saß, und habe ihn kaum erkannt“, berichtet M.
„Und ich dachte mir: Wenn er das wirklich ist und die Kollegen in Uniform reinkommen, dann gibt es hier ein Blutbad!“
Wolfgang M. muss handeln – und lässt sich einen Trick einfallen: „Ich tat demonstrativ so, als wolle ich mir eine Zigarette anzünden – obwohl ich wusste, dass mein Feuerzeug kaputt war.
Dann ging ich zu Stoll rüber und bat ihn um Feuer.“
Der Trick gelingt… und dann zieht der Polizist seine Waffe: „Ich rief: Polizei – Hände hoch!
Aber Stoll griff sofort unter seine Jacke und zog seinen Revolver.
Ich wusste: Wenn ich nicht schieße, dann bin ich tot!
Also habe ich zwei Dubletten abgefeuert (so wie wir das im Schießtraining gelernt hatten) – und das Thema war erledigt!“
Stoll (der später durch seine Fingerabdrücke eindeutig identifiziert wird), bricht zusammen – von allen vier Kugeln getroffen.
Er wird zur Uniklinik gefahren – aber erreicht sie nicht mehr lebend.
Was Wolfgang M. in diesem Moment noch nicht ahnt: Für ihn beginnt an diesem Tag eine unendliche Leidenszeit: „Es gab Schulterklopfen von allen Seiten, für viele war ich ein Held – aber ich habe mich selbst nie so gefühlt.
Ich war dafür ausgebildet worden, Menschen zu töten, aber ich habe nie geglaubt, dass das wirklich passiert …“
Die Gewissensbisse werden immer schlimmer – 1981 will M. sogar den Dienst quittieren.
„Meine Vorgesetzten sagten: Komm erst mal zur Ruhe und lass dich in den Verkehrsdienst versetzen!“
Das tut er und kommt in eine Polizeibehörde am Niederrhein.
„Jahrzehntelang habe ich die Todesschüsse verdrängt – bis zu dem Zeitpunkt, als öffentlich diskutiert wurde, ob man Christian Klar und seine RAF-Komplizen aus der Haft entlassen muss.
Da habe ich gedacht: Hätte ich nicht geschossen, läge ich jetzt auf dem Friedhof!“
Der Hauptkommissar erleidet 2012 einen Zusammenbruch, wird dienstunfähig.
Sein Psychologe diagnostiziert eine „posttraumatische Belastungsstörung“ – ausgelöst durch die Schüsse von der Oststraße.
M. will diese deshalb jetzt als Dienstunfall anerkannt bekommen, hofft auf eine etwas höhere Pension, wenn er im April in den Ruhestand geht.
Er hat alle Rechtsmittel ausgeschöpft, auch den Petitionsausschuss des Landtages eingeschaltet – aber das Innenministerium beharrt darauf, dass ein Dienstunfall innerhalb von zehn Jahren gemeldet werden müsse.
„Aber vielleicht hat ja der Innenminister doch noch ein Einsehen“, hofft Wolfgang M.
„Einen Fall wie meinen gibt es ja kein zweites Mal.“
Die Terror-Karriere des Willy Peter Stoll
Willy Peter Stoll wurde 1950 in Stuttgart geboren, galt als „sensibles Kind“.
Anfang der 70er Jahre wurde er Teil der „Roten Hilfe“, die sich um Erleichterung der Haftbedingungen für RAF-Häftlinge in Stuttgart-Stammheim bemühte, und schließlich Mitarbeiter des RAF-Anwalts Klaus Croissant.
1974 beging Stoll einen Brandanschlag.
1976 tauchte er als RAF-Mitglied in den Untergrund ab.
Er gilt als Haupttäter bei der Entführung und Ermordung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer.