Griechenland Grexit NEWS: Pokernacht in Brüssel: "Grexit auf Zeit" ist vom Tisch

Einigung mit Griechenland: Dijsselbloem erklärt die nächsten Schritte



Nach 17-stündigen Verhandlungen: Die Staats- und Regierungschefs der Eurozone einigen sich darauf, Verhandlungen über ein weiteres Rettungspaket für Griechenland aufzunehmen. Der Vorsitzende der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, umreißt auf einer Pressekonferenz kurz, welche Maßnahmen jetzt konkret notwendig sind.

 
Syriza-Lager bröckelt: Tsipras hat nur zwei Tage

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Vor zehn Tagen forderte Alexis Tsipras die Griechen auf, das Sparpaket der Eurogruppe abzulehnen. Nun soll das griechische Parlament einem ähnlichen Paket zustimmen. Wird der griechische Ministerpräsident das überstehen?

Auf der nach oben offenen Erregungsskala war eigentlich schon am Montagmorgen keine Luft mehr. "Griechenland in Auschwitz – Schäuble strebt einen Holocaust in Europa an", titelte die griechische Tageszeitung "Dimokratia". Die "Efsyn" entschied sich für die Schlagzeile "Schäuble befiehlt: Versenkt dieses Land". Wohlbemerkt: Die Einigung zwischen der griechischen Regierung und der Eurogruppe stand zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht fest.

Die Wut der Griechen könnte sich bald nicht mehr nur gegen die Bundesregierung, sondern auch gegen Alexis Tsipras richten. "Wir haben das Beste erreicht, was möglich war", sagte der griechische Ministerpräsident zwar nach dem 17-stündigen Verhandlungsmarathon. Doch er kehrt nicht als Gewinner aus Brüssel nach Athen zurück. Am Ende gab der Syriza-Politiker in allen wichtigen Punkten nach. Griechenland muss sogar jenen Privatisierungsfonds einrichten, gegen den sich Tsipras so gewehrt hatte. Der Regierungschef steht nun vor der Herausforderung, die Einigung im eigenen Land durchzudrücken. Dies dürfte alles andere als leicht werden.

Tsipras muss die neuen Sparvorhaben bis Mittwoch durch das griechische Parlament bringen. Tempo ist angesagt, nicht nur weil das Land vor der Pleite steht und schon bald keine Euro-Scheine mehr aus den griechischen Bankautomaten kommen könnten. Auch der wohl letzte Vertrauensvorschuss der Eurogruppe zwingt zur Eile.

Eine 180-Grad-Wende

Das Problem ist: Parallel dazu muss Tsipras eine Regierungsumbildung durchführen oder zumindest vorbereiten. Bei der ersten Abstimmung über die neue Sparliste hatten ihm bereits am Freitag 17 Abgeordnete des linken Syriza-Flügels die Stimme verweigert. Nur dank Stimmen aus der Opposition blieb dem Regierungschef eine Blamage erspart. Tsipras will die Rebellen in den eigenen Reihen wohl aus der Partei drängen. Die Abweichler, unter ihnen auch Energieminister und Syriza-Vize Panagiotis Lafazanis, sollen ihre Ämter verlieren, heißt es laut Reuters unter Berufung auf Regierungskreise. Eine parteiinterne Vereinbarung erlaubt es Tsipras, Abgeordnete zur Abgabe ihres Sitzes zu bringen, wenn diese öffentlich die Regierung kritisieren.

Für Tsipras steht viel auf dem Spiel. Seine Mehrheit im eigenen Lager ist bereits futsch. Auch in Griechenland droht er das zu verlieren, was für einen Regierungschef unerlässlich ist: Vertrauen. Anfang Juli hatte Tsipras von den Griechen verlangt, ein Sparpaket abzulehnen. Nun muss er dem Parlament empfehlen, ein nahezu identisches Paket zu billigen. Eine 180-Grad-Wende innerhalb von nur zwei Wochen.

Tsipras wackelt vielleicht, aber zu einer Syriza-geführten Regierung gibt es zurzeit keine Alternative. Seit Wochen hält sich zwar hartnäckig die Debatte um mögliche Neuwahlen. Viel ändern würde dies jedoch nicht. Die Oppositionsparteien sind zu schwach. In einer am Freitag veröffentlichten Umfrage der Zeitung "Parapolitika" stieg Tsipras sogar in der Wählergunst. 46,5 Prozent würden die Linken wählen, deutlich mehr als jene 36.3 Prozent bei der Wahl im Januar.

Abgesehen davon, dass das Land weder Zeit noch Geld für die zweite Wahl innerhalb eines Jahres hat: Wahrscheinlicher ist wohl eine Umbildung der Regierung. Denkbar wäre ein Zusammengehen mit einer der drei Oppositionsparteien – Nea Dimokratie, Pasok oder To Potami – oder eine Regierung der nationalen Einheit. Es muss nur schnell gehen.

 
"Griechenland wird gedemütigt": Syriza-Flügel lehnt Gipfeleinigung ab

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Der linke Flügel der griechischen Regierungspartei Syriza macht Front gegen die Brüsseler Gipfelbeschlüsse. Land und Leute seien gedemütigt worden, Griechenland verkomme zu einer Schuldenkolonie unter der Aufsicht Deutschlands.

Der linke Flügel der Syriza-Partei von Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras ruft zum Widerstand gegen die Ergebnisse des Euro-Gipfels auf. "Nach 17-stündigen Verhandlungen haben die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone eine Vereinbarung geschlossen, die Griechenland und die Griechen demütigt", erklärte die Partei-Linke. "Das griechische Volk darf sich dadurch nicht entmutigen lassen, im Gegenteil: Es muss hartnäckig bleiben, wie es das im Referendum und den landesweiten Protesten für ein 'Nein' bis ganz zum Ende war." Gegner der Einigung von Brüssel haben für den Abend zu einer Demonstration im Zentrum Athens aufgerufen.

Es handle sich um ein Rettungspaket mit noch härteren Konditionen als seine Vorgänger, das die Troika wieder etabliere und das Land dazu verdamme, "eine Schuldenkolonie" unter der Aufsicht einer von Deutschland geführten EU zu bleiben, kritisierte der radikale Flügel des Linksbündnisses. Die Griechen müssten Nein sagen - zum Rettungspaket, zum Neoliberalismus und der Sparpolitik, die das Rückgrat der Euro-Zone bildeten.

Die Spannungen im linken Syriza-Bündnis waren am Freitag offen sichtbar geworden, als 17 Angeordnete Tsipras im Parlament die Gefolgschaft bei der Frage verweigerten, ob er mit den Geldgebern überhaupt über ein neues Hilfspaket verhandeln darf. Tsipras bekam zwar die Zustimmung, war aber auf Stimmen der Opposition angewiesen. Auch für die anstehenden Abstimmungen über das Rettungspaket ist der Regierungschef auf die Unterstützung der Opposition angewiesen.

Griechen sind enttäuscht

Auch viele Wähler äußerten sich enttäuscht und resigniert. "Wissen Sie, es ist zwar schon ein Sieg, aber ein Pyrrhus-Sieg, weil die Bedingungen sehr streng sind", sagte die 73-jährige Marianna in Athen. "Die Menschen leiden seit fünf Jahren, und jetzt wird es noch schlimmer. Das macht es schwierig für uns."

"Ich bin sehr enttäuscht", sagte auch die 43 Jahre alte Angestellte Christina. Die Regierung habe zunächst sehr schwungvoll agiert und den Menschen einen Hoffnungsschimmer gegeben. "Wir waren auf schlechte Nachrichten vorbereitet, und dann ist das Schlimmste eingetreten. Das ist es, was die meisten Menschen jetzt empfinden."

Tsipras muss handeln

Wegen der fehlenden Loyalität seiner Mannschaft wird erwartet, dass Tsipras in den kommenden Tagen seine Regierung umbildet. Er dürfte nach Angaben aus regierungsnahen Kreisen jene Rebellen aus seinem Bündnis Syriza herausdrängen, die gegen die neuen Sparvorhaben sind, die zügig durch das Parlament gebracht werden müssten. Denn die Geldgeber fordern von Tsipras sofortiges Handeln. Nur so hat er die Chance, verlorengegangenes Vertrauen wieder herzustellen und seinen Willen zu beweisen, tatsächlich hinter seinen eigenen Einsparvorschlägen zu stehen.

 
Athen "wurde gnadenlos erpresst": Linke plädiert für ein Nein bei Abstimmung

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Trotz "erpresserischer Bargeldverknappung und Grexit-Angstkampagne" hätten die Griechen "Nein" zu den drastischen Sparmaßnahmen gesagt. Weshalb sollten sie jetzt ein "Ja" wollen, fragt die Linke, die hart mit der Bundesregierung ins Gericht geht.

Die Linke im Bundestag hat der griechischen Regierung davon abgeraten, die Brüsseler Einigung zu weiteren Hilfen mitzutragen. "Wer beim Referendum für ein 'Nein' war, um weiteren Kürzungsdiktaten eine Absage zu erteilen, kann jetzt nicht 'Ja' sagen", heißt es in einer politischen Bewertung der beiden designierten Linken-Fraktionschefs Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht.

Statt das Votum der griechischen Bevölkerung beim Referendum zu akzeptieren, hätten Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) und die Europäische Zentralbank (EZB) die Regierung in Athen "weiterhin gnadenlos erpresst". Dabei habe die griechische Bevölkerung "trotz erpresserischer Bargeldverknappung und Grexit-Angstkampagne" ihren Willen zum Ausdruck gebracht, in dem es Nein zu drastischen Mehrwertsteuererhöhungen, zu Rentenkürzungen und "zur weiteren Verschleuderung öffentlichen Vermögens" gesagt habe.

Die von der griechischen Regierung vorgelegte Liste, die das griechische Parlament mit den Stimmen der Opposition als Verhandlungsgrundlage gebilligt hat, entspreche in allen zentralen Fragen dem Vorschlag der Institutionen, den 61 Prozent der Griechen im Referendum abgelehnt hatten, kritisierten die Linken. "Dass Schäuble und anderen selbst das immer noch nicht ausreicht, zeigt nur, dass es ihnen nie um eine Einigung ging", heißt es in der Bewertung weiter.
Offenbar "Nein" im Bundestag

Die Linke betrachtet die Hilfsprogramme für Griechenland seit jeher kritisch, hatte aber beim bislang letzten Hilfspaket im Februar mehrheitlich mit Ja gestimmt. Damit ist nun nicht mehr zu rechnen, wenn der Bundestag voraussichtlich in dieser Woche über die Aufnahme von Verhandlungen für weitere Hilfen entscheidet.

Die Euro-Länder hatten sich am Montagmorgen bereit erklärt, das vom Staatsbankrott bedrohte Griechenland mit einem neuen Milliarden-Hilfsprogramm zu unterstützen. Sie knüpften dies aber an umfangreiche Bedingungen.
 
Diese Reformen muss Athen liefern: Der Unterwerfungsvertrag

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Griechenland und die EU einigen sich auf ein drittes Hilfspaket. Die vereinbarten Reformen zeigen: Angela Merkel hat von Athen die bedingungslose Kapitulation verlangt. Und Alexis Tsipras hat sie unterschrieben.

Am Morgen danach gibt sich Angela Merkel jovial. "Der Weg wird noch ein langer, zum Teil auch noch ein mühsamer sein. Aber es ist aller Anstrengung wert, wenn man dann zu neunzehnt zu einer Einigung kommt", sagt die Kanzlerin nach den Marathon-Verhandlungen der Euro-Staatschefs in der Nacht.

Eine Einigung? Für Griechenlands Premier Alexis Tsipras muss das wie Hohn klingen. Bis zu 86 Milliarden Euro soll sein Land im geplanten dritten Hilfspaket bekommen. Aber nur, wenn er einen Sparplan erfüllt, der härter ist als der, den die Griechen beim Referendum vor einer Woche eigentlich abgelehnt haben.

Es ist ein historischer Moment für die Europäische Union. Zum ersten Mal hat sie einem Mitgliedsland unverhohlen mit der totalen wirtschaftlichen Zerstörung gedroht, falls es nicht einlenkt. Finanzminister Schäuble hat offen gesagt: Entweder Athen bessert seine Vorschläge massiv nach - oder verlässt die Eurozone. Mit der Einigung hat Athen nun die bedingungslose Kapitulation unterschrieben.

Reform-Gewitter im griechischen Parlament

Bis Mittwoch soll die Syriza-Regierung von Alexis Tsipras vier Gesetze durchs Parlament peitschen:

Eine Mehrwertsteuerreform soll die Einnahmen erhöhen.
Sofort-Maßnahmen sollen eine umfassende Rentenreform einleiten.
Ein neues Gesetz soll die griechische Statistikbehörde Elstat politisch unabhängig machen.
Quasi-automatische Budgetkürzungen für den Fall, dass sie von den geplanten Sparzielen abweicht.

Nur falls Athen diese Reformen pünktlich verabschiedet, wollen die Euro-Länder entscheiden, ob sie überhaupt Verhandlungen über ein drittes Hilfspaket aufnehmen. Danach soll Griechenland weiter liefern:

Eine umfassende Rentenreform soll bis Oktober vorliegen.
Ladenöffnungszeiten sollen gelockert werden.
Die Märkte für Medikamente, Backwaren und Milch sollen liberalisiert werden.
Sogenannte "geschlossene Berufe", die der Staat mit Vorschriften künstlich vor Konkurrenz schützt, sollen geöffnet werden (z. Bsp. Fährtransport).
Der Stromnetzbetreiber ADMIE soll privatisiert werden, um den Wettbewerb zu erhöhen.
Entlassungen sollen erleichtert werden.
Die Aufsicht der Banken soll verschärft, die Ernennung der Aufseher entpolitisiert werden.

Für all diese Reformen muss Griechenland genaue Zeitpläne und überprüfbare Kennzahlen vorlegen. Schon bis zum 20. Juli soll die Syriza-Regierung zudem konkrete Vorschläge für eine Verwaltungsreform machen. Und sie soll alle Gesetze aufheben, mit denen sie nach ihrem Wahlsieg frühere Reformen zurückgedreht hatte.
Europa pfändet Athen das Tafelsilber

Den Versprechen aus Athen trauen die Euro-Länder nicht mehr. Sie wollen von Griechenland Sicherheiten, bevor neues Geld fließt. Die wichtigste Neuerung beim geplanten dritten Hilfspaket ist daher der sogenannte Treuhandfonds: In ihm soll Griechenland seinen Staatsbesitz bündeln und unter Aufsicht der Geldgeber verkaufen, um Schulden abzutragen. 50 Milliarden Euro sollen so zusammenkommen.

Athen wird damit faktisch enteignet und muss sein Staatsvermögen unter ausländische Kontrolle stellen. Die Euro-Länder pfänden einem ganzen Volk sein Tafelsilber - als eine Art Sicherheit für die neuen Kredite. Die Hälfte der geplanten Gewinne soll in die Bankenrekapitalisierung fließen, ein Viertel die Rückzahlung der Kredite. Nur das letzte Viertel soll für Investitionen in Griechenland verwendet werden.

Erst wenn Athen all das erledigt hat, wollen die Euro-Länder sich mit Erleichterungen bei der griechischen Schuldenlast überhaupt befassen - aber auch nur möglicherweise. "Die Eurogruppe steht bereit, falls nötig mögliche zusätzliche Maßnahmen (mögliche längere Zahlungsfristen) zur Verbesserung der Schuldentragfähigkeit in Erwägung zu ziehen", heißt es in schönstem Diplomatenslang. Einen Schuldenerlass schließen die Euro-Länder weiter kategorisch aus. Um die akuten Finanzprobleme - Athen braucht unter anderem bis kommenden Montag mehr als 3,5 Milliarden Euro für die Rückzahlung an die Europäische Zentralbank - haben sich die Staatschefs erst gar nicht gekümmert. Die dringend nötige Brückenfinanzierung sollen die Finanzminister am Montag noch regeln.

"Alles in allem: die Vorteile überwiegen die Nachteile", findet Angela Merkel. "War eigentlich für die vielen Stunden sehr sachlich", kommentiert sie die Verhandlungen. Wo man in all dem denn überhaupt noch die griechische Handschrift erkennen könne, will ein Reporter wissen. "Naja, es gibt sie in Form des hohen Finanzmittelbedarfs. Es gibt sie in Form des Kompromisses, dass von 50 Milliarden Euro auch 12,5 Milliarden Euro für Investitionen in Griechenland verwandt werden. Es gibt schon Punkte, mit denen wir auf die griechischen Belange eingegangen sind".

 
"Weder Gewinner noch Verlierer": Einigung beendet Geschichte der Schuldzuweisungen



Mit der Einigung im Schuldenstreit endet nicht nur die Zitterpartie um Griechenland, sondern auch eine lange Geschichte von Schuldzuweisungen. Es gäbe weder Gewinner noch Verlierern, so der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker. Kanzlerin Angela Merkel betont indessen, jetzt müsse neues Vertrauen aufgebaut werden. Noch am Morgen hatte Yanis Varoufakis einen wütenden Blog-Eintrag publiziert.

 
Die Folgen der Einigung: Auf dem Weg zur Desintegration

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Die Einigung von Brüssel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die europäische Konsenskultur an ihr Ende gekommen ist. Positiv ist immerhin, dass auch die Beschwichtigungsrhetorik der EU ihre Glaubwürdigkeit verloren hat.

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich auf eine neue Griechenlandhilfe geeinigt. Anlass zur Freude oder gar zur Euphorie besteht nicht. Zu tief sind die Risse, die sich durch das Griechenlanddrama ergeben haben. Vor allem drei Punkte sollten den Europäern Sorge bereiten:

Die Rückkehr der linken Ideologien: Lange war die Rede davon, dass sich die Ideologien erledigt hätten. Besonders von Seiten der Linken kamen nach dem Zusammenbruch des Sozialismus kaum Impulse. Dritte Wege wurden zu Traumpfaden, Globalisierungskritiker von Attac bis Occupy erledigten sich schnell. Nun haben hochideologische Linkspopulisten Europas Politiker vorgeführt und bis an den Rand der Erschöpfung gebracht. Alexis Tsipras & Co. können die radikale Linke neu definieren. Durch Prinzipienlosigkeit – etwa eine Koalition mit Nationalisten – ist das Potential für ein Modell eines Jörg Haider von links da. Zumal Tsipras alle Karten der Demagogie ausgespielt hat, einschließlich eines Referendums als Demokratieplacebo.

Populismus und Euroskeptizismus sind auf dem Vormarsch: Zum Demokratieplacebo passt, dass europaweit Kräfte erfolgreich sind, die mit Parolen wie "Europa, nein danke!" werben. Die endlose Griechenlandkrise wird ihnen weiter Auftrieb verschaffen. Zumal unabsehbar ist, wann es dort Fortschritte geben wird. Viele Reformen sollen erst in einigen Jahren eingeleitet werden. Krisenrhetorik und Angstmacherei werden weiter europafeindliche Stimmungen schüren.

Die Stabilität der EU ist in Gefahr: Die EU steht vor massiven Herausforderungen: von der massiven Flüchtlingsproblematik über die offenen Erweiterungsfragen bis hin zum Umgang mit Russland. Der russische Präsident Wladimir Putin profitiert von einem schwachen Europa und wird versuchen, es weiter zu destabilisieren. Immer schwieriger gelingt es, Einigungen zu erzielen. Offene Interessengegensätze treten hervor, wie kürzlich bei der Ablehnung einer Flüchtlingsquotierung.

Der Befund legt nahe: Europa muss sich mit Desintegrationstendenzen und der Abkehr von der Konsenskultur auseinandersetzen. Das dürfte vielen Politkern und Intellektuellen schwerfallen. Europäische Integrationspolitik ist aber keine Einbahnstraße. Zu fundamental treten die Verwerfungen hervor. Der proeuropäische Konsens bröckelt auch in der deutschen Innenpolitik.

Also kein Grund zur Hoffnung? Nicht ganz. Positiv an der Griechenlandkrise sind zwei Punkte:

Das Ende der Beschwichtigungsrhetorik: Die europäischen und nationalen Eliten haben einen Verlust ihrer Glaubwürdigkeit erlitten. Absichts- und Leerformeln wie "Es wird schon gutgehen!" oder "Es gibt keine Alternative!" dürften in Zukunft nicht mehr verfangen. Viele Politiker und Experten verwiesen immer wieder auf die Outputlegitimation, also darauf, dass das Ergebnis die Mittel rechtfertige. Wenn die Eurozone zur Transferunion wird, stimmt diese Legitimation aber offenbar nicht mehr. Auch das Dogma der Reformfähigkeit könnte sich in Griechenland als Mär erweisen.

Eine europäische Öffentlichkeit entsteht: Öffentliche Debatten kommen nicht ohne Verweis auf ein europäisches Narrativ aus. Eine europäische Identität bilde sich heraus. Doch worin besteht die? Wo ist die Mitte Europas, wie definiert sich die Mentalität? Keine einfachen Fragen: Zu stark sind die Gegensätze, zwischen Griechenland und dem Rest der EU-Mitgliedsstaaten, zwischen Geber- und Nehmerländern, Südländern wie Italien und Spanien sowie Nordländern wie Finnland. Alte Ressentiments treten nicht nur in Griechenland wieder hervor.

Zugleich zeigte die Griechenlandkrise: Es gibt die europäische Öffentlichkeit und Solidarität, zumindest für die europäischen Bürger. Den leidgeprüften Griechen soll geholfen werden. Das ist Konsens. Die Nachrichten europäisieren sich – zumindest ein Hoffnungsschimmer in der aktuellen Situation. Der europäische Integrationsprozess ist kein Elitenprojekt mehr. Längst wird am Stammtisch debattiert. Das stärkt das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl.

 
Einigung nach 17 Stunden: Tsipras muss Reformen schnell auf den Weg bringen



Im griechischen Schuldendrama ebnen die Staats- und Regierungschefs der Eurozone den Weg für Verhandlungen über ein drittes Hilfspaket. Kanzlerin Angela Merkel zeigt sich zuversichtlich, dass Griechenland "Chancen hat, auf den Wachstumspfad zurückzukehren", aber der Weg werde "ein mühsamer sein". Alexis Tsipras muss nun bis Mittwoch erste Reformen umsetzen, sonst fließt kein Geld.
 
Merkel zum Kompromiss mit Athen: "Die Vorteile überwiegen die Nachteile eindeutig"



Bundeskanzlerin Angela Merkel ist nach der Einigung des Euro-Gipfels auf neue Griechenland-Hilfe optimistisch. Sie kann dem deutschen Parlament "aus voller Überzeugung empfehlen", grünes Licht für die Verhandlungen über ein drittes Paket im Volumen von bis zu 86 Milliarden Euro geben. Hier ein Ausschnitt aus der Pressekonferenz im Anschluss an die 17-stündige-Marathonsitzung.

 
Gefährlicher Alleingang des SPD-Chefs: Gabriel grexelt sich ins Aus

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Die Idee eines vorrübergehenden Grexits unterstützt Sigmar Gabriel nicht. Doch er distanziert sich auch nicht deutlich von ihr. Schon wieder ein Alleingang des SPD-Chefs. Auch dieses Mal allerdings scheint er sein Ziel damit nicht erreichen zu können.

Schon zum dritten Mal brüskiert Sigmar Gabriel die eigene Fraktion und die eigene Basis. Das erste Mal tat der SPD-Chef das, als er sich auf dem Höhepunkt der Pegida-Aufzüge mit "besorgten Bürgern" traf. Das zweite Mal geschah es, als er Justizminister Heiko Maas dazu zwang, die Vorratsdatenspeicherung durchzuboxen, die unter Genossen so verhasst ist. Am Wochenende nun gab er die Position seiner Partei preis, sich unbedingt gegen einen Grexit zu stemmen.

Vizekanzler Gabriel ist auf besten Weg sich ins politische Aus zu manövrieren. Und es ist unklar, ob er erkannt hat, wie brenzlig seine Lage mittlerweile ist.

Kurz vor seinem Abflug auf eine China-Reise gab er noch auf dem Flughafen ein Statement. Es wäre die Gelegenheit gewesen, sich den Kritikern in den eigenen Reihen zu stellen, sich vielleicht mir ihnen zu versöhnen, sich zumindest aber zu erklären. Denn am Sonntagabend hatte er die SPD-Abgeordneten nur mit einem unverbindlichen Brief abgespeist. Darin hieß es zwar: "Über den zeitweisen oder dauerhaften Grexit wird nicht verhandelt." Es hieß aber auch: Eine Lösung müsse auch Substanz haben. Soll heißen: Griechenland in der Eurozone halten, aber nicht um jeden Preis. Das ist Merkels Kurs, nicht der der SPD.

Bei dem kurzfristig einberufenen Statement am Flughafen sagte Gabriel nur sehr nüchtern: "Gestern ist entschieden worden, dass Griechenland im Euro bleiben soll. Und darüber bin ich auch froh." Er verwies auf die besondere Rolle, die Deutschland und Frankreich bei der Einigung in der Nacht gespielt hätten, er sprach von einer "großen Bewährungsprobe", von einem harten Weg, der noch vor Europa liege. Zu guter Letzt zeigte er sich zuversichtlich, dass der Bundestag einem dritten Hilfspaket zustimmen werde. "Ich bin sicher, dass wir jetzt den Weg frei gemacht haben, um endlich diese Krise zu bewältigen", sagte er. Auf die parteiinternen Kritiker allerdings und das Hin und Her vom Wochenende ging er nicht näher ein. Abgehakt so das Signal.
Gabriel distanziert sich nicht von Schäuble

Aber eins nach dem anderen. Was ist am Wochenende überhaupt passiert? Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble überraschte am Samstagabend mit einem Papier, das einen sogenannten "Time-Out" als Instrument in der Griechenland-Krise vorsieht. Hellas könnte, so die Pläne des CDU-Politikers, für einige Jahre die Eurozone verlassen. Angeblich, um dann geheilt und vielleicht auch geläutert, in die Gemeinschaft zurückzukehren.

Etliche SPD-Größen stemmten sich prompt dagegen. Der Finanzexperte Carsten Schneider schrieb bei Twitter: "Grexit auf Zeit ist kein ernsthafter Vorschlag, das ist eine Gefahr für den Rest der Eurozone." Fraktionsvize Hubertus Heil schrieb: "Schäuble spielt falsch: Sein Grexit-Plan hat NICHT die Unterstützung der SPD." Und sie alle behaupteten, die Partei sei nicht eingeweiht in den Vorschlag des CDU-Mannes gewesen. Johannes Kahrs, der haushaltspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, war hier besonders deutlich. "Gabriel war nicht eingeweiht", schrieb er. "Das ist ohne die SPD, gegen die SPD gelaufen."

Kurz vor Mitternacht meldete sich dann Gabriel zu Wort: "Der Vorschlag des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble für ein zeitlich befristetes Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone ist der SPD natürlich bekannt." In einer so schwierigen Situation müsse schließlich "jeder denkbare Vorschlag unvoreingenommen geprüft werden".

Zwar sollte sich später herausstellen, dass Gabriel Bescheid wusste, dem Plan, den Grexit auf Zeit als Drohkulisse in den Verhandlungen zu nutzen, aber nicht zugestimmt hat. Sein Alleingang allerdings war dennoch unverkennbar. Und obendrein distanzierte er sich bis heute nicht ausdrücklich von der Idee des Finanzministers.
Gabriel lenkt nur von den Problemen in der Union ab

Gabriels Alleingänge folgen einem Muster und so liegen die Gründe für sie nahe. Gespräche mit Wutbürgern, Sicherheitsfetischismus, Unbarmherzigkeit mit Schuldnern - Gabriel versucht offensichtlich, mit populistischen Aktionen die Umfragewerte der Sozialdemokraten aufzubessern. Er versucht, schriller und härter zu sein als die Kanzlerin, die ihn bei den Beliebtheitswerten weiterhin um Längen voraus ist.

Gabriels Problem ist nur: Die Bereitschaft seiner Partei, diesen Weg mitzugehen, dürfte mit jedem dieser Alleingänge sinken. Denn - Ideale und Moral hin oder her - bisher erreichen sie nicht mal das erhoffte Ziel. Die SPD darbt weiterhin bei Werten, die kaum an das schwache Ergebnis bei der Bundestagswahl 2013 von kaum 26 Prozent heranreichen. Und so könnte es auch dieses Mal sein. Denn eines zeichnet sich schon jetzt ab: Der parteiinterne Streit der Genossen sorgt vor allem für eines: Er lenkt davon ab, dass beim Thema Griechenland auch die Union tief gespalten ist. Klar ist: Ein Parteichef, der weder die Umfragewerte beflügelt noch die Herzen der Genossen gewinnt, hat wenig Chancen darauf, 2017 Kanzlerkandidat zu sein. Es sei denn, die SPD sucht nach einem Mann, den sie verheizen kann, weil sie sich ohnehin keine Hoffnungen auf einen Erfolg mehr macht.

 
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