Das ist Europas Notfallplan für den Brexit !
Der Notfallplan
Noch in der Nacht dürfte klar werden, ob die Briten für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben.
Die Europäer haben sich seit Wochen darauf vorbereitet und einen Plan für den Tag X entwickelt.
Falls die Briten heute für den Brexit stimmen, wird der Tag morgen in Brüssel früh beginnen.
Um 7 Uhr früh treffen sich die Präsidien der großen Fraktionen im Europäischen Parlament.
Eine Stunde später beraten die Fraktionsvorsitzenden mit Parlamentspräsident Martin Schulz über die Lage.
Schulz hechtet um 10.30 Uhr zum Sitz der Kommission.
Dort ist er mit den anderen drei Präsidenten verabredet: Jean-Claude Juncker, dem Hausherrn, Donald Tusk, der den Rat der Staats- und Regierungschefs leitet, und Mark Rutte, der die niederländische Ratspräsidentschaft vertritt.
Parallel dazu kommen die Außenminister der sechs EU-Gründerstaaten in der belgischen Hauptstadt zusammen.
Es wird den ganzen Tag über Erklärungen geben, Pressekonferenzen, Interviews.
Noch nie hat sich die Europäische Union so intensiv auf eine Entscheidung in einem Mitgliedsland vorbereitet.
Seit Wochen ist in Brüssel für den Tag X geplant worden.
Während sich die führenden Politiker mit öffentlichen Äußerungen zurückhielten, stimmten sie sich im Stillen untereinander ab.
Zwischen Paris und Berlin wurde eine gemeinsame Erklärung ausgearbeitet.
Vielleicht schließt sich Warschau an, dann wäre das „Weimarer Dreieck“ komplett.
Die Außenminister der Gründerländer trafen sich schon im Mai auf einem Schloss vor den Toren Brüssels, um ihre Reaktion abzustimmen.
In manchen Bereichen kam die europäische Politik mit Rücksicht auf die britische Entscheidung zum Erliegen.
So musste die Außenbeauftragte Mogherini ihre fertige „Globale Strategie“ erstmal in der Schublade lassen – um den Euroskeptikern nicht weitere Munition zu liefern.
In anderen Bereichen wurde dagegen mächtig aufs Tempo gedrückt, etwa bei den Finanzhilfen für Griechenland.
„Eine Krise ist genug“, hieß es intern.
Und damit war der mögliche Brexit gemeint.
Es ist klar, was auf dem Spiel steht
Allen Beteiligten ist klar, was auf dem Spiel steht: Zum ersten Mal würde ein Mitgliedstaat die Europäische Union verlassen.
Gewiss, die Grönländer schieden 1985 aus der Gemeinschaft aus, nachdem sie die „innere Autonomie“ von Dänemark erlangt hatten.
Aber das war ein Sonderfall von geringer Bedeutung.
Bis zur jüngsten Reform sahen die europäischen Verträge nicht einmal ein Recht zum Austritt vor.
Juristen schrieben Habilitationen über die Frage, ob es dennoch möglich sei, die Union zu verlassen.
Im Zuge des Lissabon-Vertrags wurde über den Fall diskutiert, dass alle Staaten bis auf einen das Vertragswerk ratifizieren: Hätten die dann eine neue EU neben der alten Hülle gründen können?
Das blieb alles Theorie.
Nun aber droht der Ernstfall.
In den vielen vorbereitenden Runden haben sich drei Botschaften für den Tag X herausgeschält.
Die erste formuliert ein Eingeweihter so: „Die Briten haben entschieden, es gibt kein Zurück mehr.“
Die vor dem Referendum oft gehörte Variante lautet: „Drin heißt drin und raus heißt raus.“
Bundesfinanzminister Schäuble sagte das zuletzt bei jeder Gelegenheit, sogar auf Englisch, damit es auch im Vereinigten Königreich ankam.
Entscheidungen haben Konsequenzen.
Das soll auch nach dem Referendum noch gelten, ist aber gar nicht so selbstverständlich, wie es klingt.
Zuschauer einer Volksabstimmung
Denn zunächst ist die Europäische Union nur Zuschauer einer Volksabstimmung in einem Mitgliedsland.
Jeder wird morgen wissen, wie sie ausgegangen ist; für politische Stellungnahmen reicht das.
Im rechtlichen Sinne gilt das Ergebnis aber erst, wenn die Londoner Regierung eine Erklärung gegenüber der EU abgibt: dass das Vereinigte Königreich austreten wird.
In diesem Fall greift Artikel 50 des EU-Vertrags, er regelt das Verfahren.
Die Regierungschefs vereinbaren Leitlinien – ohne den britischen Premierminister.
Die Kommission verhandelt dann mit London.
Am Ende müssen das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit zustimmen.
Zeitrahmen dafür: maximal zwei Jahre; eine Verlängerung ist nur einstimmig möglich.
Mit einer Erklärung aus London beginnt die Uhr also zu ticken.
Die EU erwartet diese Mitteilung bis spätestens 28. Juni, wenn sich die Staats- und Regierungschefs zu ihrem traditionellen Sommergipfel versammeln.
Der Austritt des Vereinigten Königreichs würde dann zum 1. Juli 2018 erfolgen.
Es ist aber überhaupt nicht sicher, dass sich London diesem Zeitplan unterwirft.
Denn wer ist „London“ nach einem Ja zum Brexit?
Premierminister Cameron wäre geschlagen.
Gut möglich, dass er seinen Rücktritt ankündigt und nur noch als kommissarischer Amtsverweser beim Gipfeltreffen auftaucht, obwohl er am Mittwoch noch beteuerte, im Falle des Brexits nicht zurückzutreten.
Es würde Wochen dauern, bis ein Nachfolger im Amt ist.
Man möchte denken, dass der sich nichts Sehnlicheres wünscht, als Brüssel den erkämpften Sieg mitzuteilen.
Die „Brexiteers“ sind allerdings gewiefte Taktiker.
Einer ihrer wichtigsten Vertreter, der Führer des Unterhauses Chris Grayling, ließ sich letzte Woche in die Karten sehen.
London solle sich um einen „informellen Prozess“ bemühen, sagte Grayling der „Financial Times“, um die Austrittsdetails und ein neues Handelsabkommen bis Ende 2019 zu vereinbaren.
Informell hieß in diesem Fall: zu britischen Bedingungen.
Denn schon vorher will der Konservative den Vorrang europäischen Rechts aufheben und mehrere Gesetze ändern.
Das liefe auf einen Austritt „à la carte“ hinaus.
Errichtung von Brandmauern
In Brüssel sorgten Graylings Gedankenspiele für helle Aufregung.
Dagegen müsse man eine Brandmauer errichten, hieß es.
Die sähe so aus: Die EU könnte das Referendum als verbindliche Austrittsentscheidung werten und die britische Mitgliedschaft suspendieren, wenn London einseitige Schritte ergreift.
Von einem Tag auf den nächsten würden dann wieder Zölle auf britischen Einfuhren fällig – ein Schlag, der die Wirtschaft der Insel schwer träfe.
Diese Drohung wird am Tag X niemand wiederholen wollen, schon um die Märkte nicht weiter zu erregen.
Sie wird aber mitschwingen in den mahnenden Worten aus Brüssel, dass man die Entscheidung der Briten ernst nehme und sie unumkehrbar sei.
Die zweite Botschaft nach dem Brexit zielt auf die Märkte.
Sie lautet etwa so: Wir bleiben Partner und werden unsere Beziehungen neu regeln.
Es soll ein Zeichen der Kontinuität an einem Tag des offensichtlichen Bruchs sein.
In Brüssel herrscht große Sorge vor chaotischen Folgen des Referendums.
Schon in den Tagen zuvor sind europäische Aktienindizes gefallen, das Pfund Sterling verlor deutlich an Wert, Investoren zogen ihr Geld ab und steckten es in deutsche Staatsanleihen – eine Sicherheit, für die sie sogar bereit waren, Zinsen zu zahlen.
Die Europäische Zentralbank ließ wissen, dass sie Banken auch mit Pfund versorgen kann, wenn es auf dem Kapitalmarkt eng wird.
Nach der Lehman-Krise kam sie auf diese Weise europäischen Unternehmen zur Hilfe, die Verbindlichkeiten in Dollar hatten, sich aber auf dem amerikanischen Markt kein Geld mehr leihen konnten.
Entsprechende Tauschabkommen mit anderen Notenbanken machen das möglich.
Ruhe ist gefragt
Beruhigung soll also das Gebot der Stunde sein.
Märkte schätzen Berechenbarkeit, lautet das Kalkül, also muss deutlich werden, dass es ein geordnetes Austrittsverfahren gibt.
In der Kommission wie im Rat stellt man sich das so vor: In den zwei Jahren soll allein die Trennung verhandelt werden – das neue Verhältnis der Briten zur Europäischen Union wäre erst danach zu klären.
Begründet wird das vor allem mit der knappen Zeit.
Als die Grönländer sich verabschiedeten, waren allein drei Jahre notwendig, um die Fischereirechte zu klären.
Mit London gäbe es viel mehr zu besprechen.
Was wird zum Beispiel aus der Strukturförderung, die bis 2020 vereinbart wurde?
Wie werden Vertragsverletzungsverfahren abgewickelt?
Welche Pensionsverpflichtungen übernimmt London, das noch 1164 Beamte in europäischen Diensten hat?
Es ist wie bei Scheidungsverhandlungen: Man geht nicht einfach auseinander, es müssen Versorgungsansprüche und Besitzstände geregelt werden.
Ob das hier möglich ist, ohne die künftigen Beziehungen zu klären, darf man bezweifeln.
Immerhin sieht Artikel 50 vor, dass „der Rahmen für die künftigen Beziehungen“ des austretenden Staates zur Union „berücksichtigt wird“.
Den Rahmen zu füllen, wird aber länger dauern als bloß zwei Jahre.
In Brüssel ist von fünf bis zehn Jahren die Rede.
Die Dauer hängt vom Modell ab.
Wollen die Briten wie die Norweger am gemeinsamen Markt teilnehmen, dafür in den EU-Haushalt zahlen, aber kein Wort mitreden?
Das ginge schnell, wäre aber das Gegenteil von dem, was das Brexit-Lager verspricht: endlich wieder souverän sein und kein Geld mehr nach Brüssel überweisen.
Will London vielleicht lieber Verträge mit jedem einzelnen EU-Mitgliedsland schließen wie die Schweiz?
Oder ein ganz neues Freihandelsabkommen mit Brüssel aushandeln?
Beides würde eine kleine Ewigkeit dauern, zumal London seine Handelsbeziehungen zu sechzig weiteren Staaten neu zu regeln hätte.
In jedem Fall müssen die Mitgliedstaaten eine neue Vereinbarung am Ende ratifizieren – das alleine nimmt zwei Jahre in Anspruch.
Ohne Einigung würde London in den Status eines gewöhnlichen Drittstaats zurückfallen.
Für diesen Fall sagen Ökonomen eine Rezession voraus, die weit schlimmer wäre als die letzte Finanzkrise.
Solidarität unter den 27 Staaten
Bleibt eine dritte Botschaft für den Tag X, nämlich diese: Wir stehen als 27 Staaten solidarisch zusammen.
Das zielt zum einen die Märkte: Investoren werden wahrscheinlich gegen einzelne Staaten spekulieren, die von einem britischen Austritt besonders betroffen sind.
In der EU-Kommission hält man Irland und Portugal für besonders verwundbar.
Aus diesem Grund seien gegen Portugal trotz des Haushaltsdefizits keine Sanktionen verhängt worden, heißt es.
Die Solidaritätsbotschaft zielt auch auf jene Staaten, die mit der EU fremdeln.
Da fallen einem als erstes Polen und Ungarn ein, zwei Länder außerhalb der Eurozone, deren Regierungen auf nationale Abgrenzung setzen, in der Flüchtlingskrise Solidarität verweigern und sich den Rechtsstaat zurecht biegen. Gegen Warschau läuft deshalb sogar ein Verfahren der Kommission.
In den vergangenen Tagen sind auf verschiedenen Ebenen Gespräche mit Warschau und Budapest geführt worden.
In Brüssel wird versichert, dass weder Beata Szydlo noch Viktor Orbán ein Signal der Spaltung senden wollen.
Schon weil sie kein Interesse an Marktspekulationen haben, die ihre eigenen Kreditzinsen in die Höhe treiben würden.
Orbán muss sich zudem die rechtsextreme Partei Jobbik vom Hals halten – die würde sofort aus der EU rausgehen.
Er hat sich vor der Abstimmung mit Anzeigen in britischen Zeitungen sogar direkt an die Wähler gewandt.
Die Botschaft: „Ungarn steht mit Stolz zu Euch als Mitglieder der Europäischen Union.“
Sorge um Niederlande
Die größeren Sorgen gelten den Niederlanden, einem Gründungsstaat und Eurozonen-Mitglied.
Dort ist es neuerdings so einfach wie in keinem anderen Kernland, Volksabstimmungen durchzusetzen.
Es reichen 300.000 Unterschriften in sechs Wochen – nicht sehr viele bei 12,5 Millionen Wahlberechtigten.
Außerdem sind die Rechtspopulisten sehr stark.
Nach gegenwärtigen Umfragen würde ihr führender Kopf Geert Wilders mit seiner Partei mehr Sitze im Parlament erringen als die regierende große Koalition.
Die europafeindliche Stimmung brach sich zuletzt Bahn in einem Referendum über das EU-Assoziationsabkommen mit der Ukraine.
Die Organisatoren planen weitere Referenden gegen die EU.
Von einem Brexit könnten sie weiter Auftrieb erhalten.
Um den EU-Gegnern nicht zusätzlich Futter zu liefern, wird sich Brüssel am Tag X eine andere Botschaft verkneifen: Wir schaffen jetzt endlich die engere Union, die Großbritannien nie wollte.
Es gäbe dafür zwar viel Sympathie im Europäischen Parlament und in der Kommission.
Aber Jean-Claude Juncker zog schon Anfang Juni eine rote Linie.
Eine Neuverhandlung der bestehenden Verträge entspreche „nicht den Neigungen der Mitgliedstaaten“, sagte der Kommissionspräsident.
Es sei bei einem Brexit auch nicht realistisch, auf eine Vertiefung der Eurozone zu dringen – das würde die 27 Mitglieder spalten.
„Wir dürfen nicht mit Aktionismus reagieren“, äußerte Juncker.
Als konsensfähig erscheinen zunächst nur Initiativen, die der inneren und äußeren Sicherheit der EU-Staaten dienen.
Da geht es dann um einen besseren Grenzschutz, den intensiveren Datenaustausch zur Terrorabwehr, die Energieunion – Dinge, die ohnehin schon auf der Tagesordnung stehen.
Auch bei der Verteidigung sind Fortschritte möglich.
Es könnte etwa ein Hauptquartier für die „Battle Groups“, das London stets blockiert hat.
Nicht alle Fälle lassen sich vorausplanen
Freilich scharren die Abgeordneten der großen Fraktionen im Europäischen Parlament schon mit den Füßen: Sie wollen mehr.
„Wenn wir es nicht schaffen, die Union insgesamt oder in Teilen weiterzuentwickeln, werden wir das Vertrauen der Gutwilligen verlieren“, sagt Knut Fleckenstein, Fraktionsvize der Sozialdemokraten.
Er bastelt ebenso wie der CDU-Politiker Elmar Brok und der Liberale Guy Verhofstadt an weiteren Reformvorschlägen.
Da geht es etwa um eine Angleichung der Steuersysteme, eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik der Eurozone und einen Europäischen Währungsfonds.
Die Fraktionen wollen bei einem Brexit-Votum am Dienstag parallel zu den Regierungschefs beraten; eine Sondersitzung des Parlaments ist im Gespräch.
Das Ziel ist eine gemeinsame Erklärung, die in die Zukunft weist.
An den Neigungen der Mitgliedstaaten wird das noch nichts ändern.
Deutschland und Frankreich wählen im nächsten Jahr.
Präsident Hollande ist eingemauert von hausgemachten Problemen und vom Front National.
Er hegt außerdem ganz andere Erwartungen an eine Reform der Eurozone als Kanzlerin Merkel: nicht sparen, sondern mehr Geld ausgeben.
Das spricht gegen größere deutsch-französische Initiativen.
Allerdings gilt auch hier die Lektion aus der Finanzkrise: Wenn der Druck von außen so groß wird, dass Europa handeln muss, ändern sich politische Kalküle.
Dieser Fall lässt sich aber nicht vorausplanen.