Lübcke-Prozess: Wer ist Stephan Ernst ?
Am 27. Verhandlungstag im Lübcke-Prozess rückt die Vita des Hauptangeklagten in den Mittelpunkt des Verfahrens.
Deutlich wird, dass die von Stephan Ernst bislang präsentierte Version seines Lebenslaufs nicht so schlüssig ist, wie er sie selbst darstellt.
Es ist nicht mehr all zu viel, was Dieter Jöckel über den jungen Mann zu berichten weiß, mit dem er sich vor 25 Jahren unterhielt.
Etwa anderthalb Stunden dauerte das Gespräch seinerzeit. "Er war nicht unnahbar", erinnert sich der forensische Psychiater.
Alles in allem sei er "angenehm überrascht" gewesen über den Verlauf der Sitzung.
Denn immerhin hatte ihn das Landgericht Wiesbaden um eine Einschätzung gebeten.
Gegen den 21-Jährigen, der ihm gegenüber saß, lief damals ein Strafverfahren.
Im November 1992 soll er auf der Toilette des Wiesbadener Hauptbahnhofs einen türkischen Imam niedergestochen, wenige Monate später eine Rohrbombe in einem Pkw vor einer Asylunterkunft deponiert haben.
Im Gespräch mit ihm aber habe sich der mutmaßliche Gewalttäter kooperativ und gesprächsbereit gezeigt.
"Ich habe ihn als jungen Mann erlebt, der ganz viele Probleme hat", resümiert Jöckel, "ein stilles, aber tiefes Wasser."
25 Jahre später, im November 2020, sitzt Jöckel mit demselben Mann wieder in einem Raum: Dem Sitzungsaal 165C des Frankfurter Oberlandesgericht.
Jöckel ist Zeuge, sein Gesprächspartner von damals Hauptangeklagter im Mordfall Walter Lübcke.
An diesem 27. Prozesstag steht der Lebenslauf von Stephan Ernst, dem mutmaßlichen Mörder Walter Lübckes, im Mittelpunkt.
Jöckel und ein weiterer Gutachter aus dem Verfahren von 1995 sollen Auskunft darüber geben, wer dieser Stephan Ernst damals war.
Und damit vielleicht auch Ansätze einer Erklärung dafür liefern, wie er zu dem Menschen wurde, der er heute ist.
Fragmente einer Lebensgeschichte
Seine Sicht auf den eigenen Werdegang hatte Ernst bereits am achten Prozesstag von seinem Verteidiger Mustafa Kaplan verlesen lassen - kurz bevor sein drittes Geständnis, in dem er endgültig die Verantwortung für den tödlichen Schuss auf Walter Lübcke übernahm, ablegte.
Sie beginnt mit einem gewalttätigen, ausländerhassenden Vater, führt über schlechte Erfahrungen mit türkischstämmigen Jugendlichen, zahlreiche Gewalttaten und Jahre in der Neonazis-Szene zu einem vermeintlichen Ausstieg und dem späteren Wiedersehen mit dem Mitangeklagten Markus H., den Ernst für seine "Re-Radikalisierung" verantwortlich macht.
All das gipfelte schließlich in dem gemeinsam erdachten und ausgeführten Mordanschlag auf Lübcke.
Eine in sich konsistente Erzählung - so lange man nicht zu dezidiert nachfragt.
Einige Motive dieser Erzählung tauchen tatsächlich bereits Mitte der 90er in der Exploration durch Dieter Jöckel und zwei weitere Kollegen auf.
Das problematische Verhältnis zum Vater und die schlechten Erlebnisse mit türkischstämmigen Jugendlichen, die Ernst schon damals für seine "negative Einstellung" gegenüber "Ausländern" verantwortlich macht.
Er habe Ernst seinerzeit "nicht als politisch motivierten Täter, sondern als persönlichkeitsgestörten Täter" wahrgenommen, sagt Jöckel.
Der zweite Gutachter von damals, Jakob Gutmark, kann sich derweil tatsächlich an gar nichts mehr erinnern.
Er betritt den Sitzungssaal an diesem Dienstag nur, um fünf Minuten später wieder unvereidigt entlassen zu werden.
Nicht alles passt zusammen
Auch wenn es nur Erinnerungsfragmente sind, die Jöckel wiedergeben kann, sind sie an diesem Verhandlungstag doch von einiger Bedeutung.
Denn bei der anschließenden Befragung durch das Gericht, bezieht sich Ernst selbst immer wieder darauf.
In seiner Erzählung sind es zunächst persönliche, nicht ideologische Gründe, die ihn in der Vergangenheit zu Gewalttaten motiviert hätten.
Die Brandstiftung im Keller eines Mehrfamilienhauses 1989 - ein Racheakt, weil ihn ein dort lebender türkischer Bekannter nach einem gemeinsam begangenen Einbruch belastet habe.
Der Messerangriff auf den Imam - eine Reaktion darauf, dass dieser ihm sexuelle Avancen gemacht habe.
Die schwere Körperverletzung an einem türkischen Mitgefangenen während seiner ersten Haftstrafe - Rache für eine versuchte Erpressung.
Eine Neigung Verantwortung an andere Personen zu delegieren, liest der Verteidiger von Markus H., Björn Clemens, in Ernsts Aussagen hinein.
Eine Interpretation, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist.
Ernst hat sich eine Geschichte seiner selbst zurecht gelegt, in die vieles hineinpasst - aber nicht unbedingt alles zusammen.
Da ist etwa die Teilnahme an einer von dem führenden Neonazi-Kader Thorsten Heise organisierten Sonnenwendfeier in Thüringen, die nach Erkenntnisse des Landesamts für Verfassungsschutz im Jahr 2011 stattgefunden hat - zwei Jahre nach Ernsts vermeintlichem Ausstieg aus der Neonazi-Szene.
Ein Foto der Veranstaltung zeigt Ernst inmitten einer Gruppe einschlägig bekannter Aktivisten der rechten Szene.
"Ich kann mich an die Sonnenwendfeier erinnern", gesteht Ernst ein.
Ob sie tatsächlich 2011 stattgefunden habe, könne er nicht sagen.
Wenn ja, dann habe er allerdings nicht aus ideologischer Überzeugung teilgenommen.
Im Grunde habe es sich "um ein großes Trinkgelage" gehandelt.
Ausbruch aus der Apathie
Auch bei den heutigen Einlassungen macht Ernst einen oft zurückgenommenen, stellenweise apathischen Eindruck.
Als ob er über eine ihm im Grunde fremde Person sprechen würde und nicht über sich selbst.
Diesen Schutzschirm durchbrechen Gericht und Staatsanwaltschaft schließlich mit zwei Fragen.
"Sie hatten interessanterweise immer wieder ausländische Freunde", stellt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel fest.
Auch Ernsts Ehefrau, habe mit ihrer Herkunft nicht dem Idealbild seiner Kameraden entsprochen.
Ob ihm das nie zu denken gegeben hätte?
"Es ist so, dass eigentlich, wenn ich so selbst zurückblicke", stottert Ernst los, "dass eigentlich das Wesentliche, wo ich... also wie ich mein Leben aufgebaut habe, sei es meine Familie, seien es die Freunde, die ich hatte...".
Dann bricht seine Stimme.
Aus dem Schluchzen schält sich mühsam das Eingeständnis, dass dieses "wirkliche Leben" wie Ernst es nennt, im Widerspruch zu seinen politischen Aktivitäten steht.
"Ich erlebe, dass Sie betroffen sind, wenn es um Ihre Familie geht, Sie dann aber sehr kontrolliert sind, wenn es um die Straftat geht, nämlich die Ermordung des Doktor Lübcke", wendet sich schließlich auch noch der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Dieter Killmer, an Ernst.
Ob er sich schon einmal mit dem Thema Schuld auseinandergesetzt habe.
Erneut kann Ernst nur unter Tränen antworten: "Ich empfinde jedes Wort, das ich dazu sage, als heuchlerisch.
Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll", sagt er.
Der Prozess wird am kommenden Dienstag, 10. November fortgesetzt.