Gefährliche Bahnübergänge in Deutschland "Der Zug!" ruft die Mutter - dann ist ihr Sohn tot

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Gefährliche Bahnübergänge in Deutschland "Der Zug!" ruft die Mutter - dann ist ihr Sohn tot

Im allerletzten Moment sah sie noch den Zug, aber es war zu spät. An einem ungesicherten Bahnübergang verlor eine Frau ihren fünfjährigen Sohn. Jetzt fordert sie: Sichert alle Bahnübergänge.

Den Zug sieht sie im allerletzten Moment. Da ist er nur noch ein paar Meter entfernt. Vielleicht auch weniger. Sie kann noch rufen: Der Zug! Als sie erwacht, liegt die Familie im Wagen kopfüber im Graben. Matteo, ihr fünfjähriger Sohn, leblos auf dem Beifahrersitz. Am Steuer ihr Vater, besinnungslos. Wie auch die Mutter neben ihr auf der Rückbank. Allein Matteos zweijährige Schwester ist wie durch ein Wunder kaum verletzt. Sie weint. Sie fühle sich wie in einem dieser Träume, die sie manchmal habe, sagt Maria P. (Name geändert). Sie laufe, stolpere plötzlich und falle der Länge nach hin. "Und ich werde wach, kurz bevor ich auf dem Boden aufschlage." Als der Zug kam, wie aus dem Nichts, das sei vergleichbar gewesen, mit dem Stolpern im Traum. "Ich sah ihn und im nächsten Moment war alles schwarz. Nur bin ich diesmal nicht aufgewacht."

Matteo, ihr Erstgeborener, kann nur noch tot geborgen werden. Ein blonder Junge, die glatten Haare trägt er schulterlang. Das Gesicht, ganz die Mutter, würde man in einer anderen Situation wohl sagen. Die Fotos im Internet zeigen ihn mit einem breiten Grinsen und feinen Grübchen an der Wange. Die Aufnahmen hat seine Mutter eingestellt. Jeder soll sie sehen. Sein Leben endete an einem unbeschrankten Bahnübergang im Kirchspiel Garding, einer Gemeinde in Nordfriesland, knapp eineinhalb Autostunden von Hamburg entfernt. St. Peter Ording ist ganz in der Nähe, Urlaubsland am Nordseestrand.

Der Regionalzug nach Tönning erfasst den sportlich getrimmten schwarzen Audi A4 der Familie am Nachmittag des 11. Mai, einem Montag. Sie kommen vom Einkauf bei Aldi und wollen zurück auf den Bauernhof, auf dem sie ihren Urlaub mit den Großeltern verbringen. Nur Matteos Vater ist nicht dabei – noch in der Probezeit, verzichtete auf den Urlaub. Die Scheunen sind von den Schienen aus bereits zu sehen. Doch sie kommen nie an. Um 16.50 Uhr gibt der Lokführer noch ein Warnsignal ab, zieht die Notbremse, zu spät. Seit dem Unfall und dem Tod ihres Sohnes hat Maria P. einen Auftrag. Und dafür greift sie zu überaus ungewöhnlichen Mitteln. "Sichern sie alle deutschen Bahnübergänge", fordert Maria P. auf change.org. Mehr als 43.000 Menschen kennen das Schicksal der Familie. So viele teilen den Aufruf der Mutter. Täglich werden es mehr.


Die Petition ist eng mit dem Namen und dem Gesicht Matteos besetzt. Es gibt Stimmen, die kritisieren Maria P. dafür. Die 36-Jährige ist ein Kommunikationstalent: Schauspielerin, Sängerin und Fernseh-Moderatorin. Ihre Stärken setzt jetzt allein für diese eine Sache ein. Trauert sie nicht? Warum zerrt sie ihren toten Sohn an die Öffentlichkeit? Maria P. kennt diese Fragen: "Ich rede nicht über den Tod von Matteo, ich möchte etwas verändern", sagt sie am Frühstückstisch, die Krücken neben sich. Einen doppelten Hüftbruch erlitt sie, blaue und grüne Flecken übersähen ihre Beine. Sie ist auf dem Weg der Besserung. Draußen vor der Eingangstür des fast noch putzfrischen Einfamilienhauses im Hamburger Umland liegt ein Spielzeug-Bagger. Im kleinen Garten wächst Salat.

Die Familie stehe geschlossen hinter ihr, sagt sie. "Klar ist das auch eine Art zu verarbeiten, aber es bringt mir in dem Sinne nichts." Matteo könne nicht zurück geholt werden. "Der Unfall hätte verhindert werden können." Deswegen sei ihr Engagement so wichtig. Es sei wie eine Stiftung zu gründen. "Dann nennt man auch den Namen, zu dessen Gunsten die läuft." Spricht man über Matteo und dessen Tod muss man auch über die Zahlen sprechen, die seine Mutter anführt. Und die sind nicht von der Hand zu weisen. Im Gegenteil: Der schwere Unfall und die, man muss es wohl so sagen, Öffentlichkeitsarbeit im Zeichen des toten Matteo, haben die Diskussion um die Sicherheit an unbeschrankten Bahnanlagen erneut entfacht. Laut den "Husumer Nachrichten" weist deren Archiv zwischen 2003 und 2013 zwölf Zusammenstöße zwischen Zügen und Autos an jener Bahnstrecke aus, die Husum und St. Peter Ording verbindet. Vier Tote soll es gegeben haben. Matteo ist wohl der fünfte tragische Fall.
40 Prozent der Übergänge sind ungesichert

Knapp 18.000 Bahnübergänge gibt es in Deutschland, davon sind etwas mehr als 40 Prozent ungesichert, so wie in Garding. Vor zwei Jahren verzeichneten die Deutsche Bahn 150 Unfälle mit 32 Toten – damit endet in jenem Jahr jeder fünfte Unfall tödlich. Am unfallträchtigsten sind laut einer Bahn-Statistik jene Übergänge, die mit einem zweifachen Lichtzeichen oder einem Blinklicht ausgestattet sind. Allerdings passieren 95 Prozent aller Unfälle, weil Autofahrer schlicht nicht aufpassen. Das wissen auch der ADAC und der Fahrgastverband Pro Bahn, die seit Jahren für mehr Sicherheit an Bahnanlagen kämpfen.

"Wir bedauern es sehr, dass es zu dem schweren Unfall am Bahnübergang in Garding gekommen ist. Unser Mitgefühl gilt in dieser schweren Stunde der Familie von Matteo", sagt Egbert Meyer-Lovis, Sprecher der Deutschen Bahn für Norddeutschland. "Jeder Unfall ist einer zu viel." Die Bahn arbeite seit Jahren mit Nachdruck daran, die Zahl der Bahnübergänge zu reduzieren. "Rund 4800 Anlagen konnten seit 2004 beseitigt werden, weitere wurden mit einer technischen Sicherung ausgestattet oder durch Über- oder Unterführungen ersetzt."

Am Steuer des Audi saß der Großvater, 66 Jahre alt, neben ihm Matteo, im Kindersitz. "Mein Vater ist der umsichtigste Autofahrer, den ich kenne", sagt Maria P. Einer, der sich nie hatte ablenken lassen. Sie vermute, dass er den Zug nicht bemerkte, weil die Sonne schlecht stand und weil er auf die Straße konzentriert war – eher ein Feldweg, der Mittelstreifen bewachsen. Er hatte mit dem sportlichen Wagen nicht aufsetzen wollen. Vom Tod Matteos erfährt der Großvater erst Wochen später. Die Familie will Rücksicht nehmen. Seine Kopfverletzungen sind so schwer, dass die Familie lange nicht weiß, ob er behindert bleibt. Er wird gesund werden, ist heute klar, doch er erinnert sich an nichts.

Die Petition richtet sich an drei Personen: an Rüdiger Grube, den Chef der Bahn, Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und Christian Schramm, den Vorsitzenden des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Es sieht ganz danach aus, dass die Petition bald von 50.000 Menschen unterstützt wird. Das sei das Ziel gewesen, sagt Maria P. Doch was dann? Noch hat sie keinen Unterstützer aus der Politik. Auch die Bahn hat sich nicht gemeldet. Allerdings habe die der Kfz-Versicherung bereits den Schaden gemeldet, der beim Crash am Regionalzug entstand. Nein, sie wolle niemanden anschwärzen, betont Maria P. "Ich will etwas verändern." Die Bahn argumentiere immer, sie sei gesetzlich abgesichert. "Aber was ist, wenn Gesetze, die die Menschen ja schützen sollen, nicht mehr greifen?", fragt sie.

Noch schwer verletzt im Krankenbett liegend, hatte sie von den anderen Unfällen erfahren und die Petition auf ihrem iPhone formuliert. Aus der fixen Idee sind Chancen erwachsen. Flyer sollen folgen, Aufkleber. Wichtiger noch als der Kontakt zu Dobrindt und Grube sei ihr weiter Stimmen zu sammeln, um daraus eine Art Volkeswille ableiten zu können. Und sie mache weiter, damit keine Familie das durchleiden müsse, was ihrer wiederfahren sei. Dass kein Mensch deswegen noch sterben müsse, wie Matteo. "Ich hoffe, dass er da oben auf einer Wolke sitzt unter einem Stern und hinunterschaut und die Daumen drückt, dass in seinem Namen was geändert werden kann."
 
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