Freistatt: Aufwühlendes Jugenddrama aus einer deutschen Drill-Anstalt !

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Freistatt: Aufwühlendes Jugenddrama aus einer deutschen Drill-Anstalt !

Am Donnerstag ist der Film’Freistatt’ in den deutschen Kinos gestartet, der nach dem Drehbuch von Nicole Armbruster und Marc Brummund entstanden ist, das mit dem Emder Drehbuchpreis (vergeben von der Grimme-Jury) und mit der Lola in Gold (Deutscher Drehbuchpreis 2013) ausgezeichnet wurde.

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Neben bekannten Darstellern wie Uwe Bohm als Stiefvater, Katharina Lorenz als Mutter, Alexander Held als Hausvater, sowie Max Riemelt und Stephan Grossmann als Erzieher, versammelte Marc Brummund für ‘Freistatt’ ein Ensemble viel versprechender Newcomer wie Langston Uibel, Anna Bullard und Enno Trebs.
Sein Hauptdarsteller Louis Hoffmann wurde im Januar 2015 mit dem Bayerischen Filmpreis für den besten Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet.

Für die Kamera des Films zeichnete Judith Kaufmann verantwortlich, den Schnitt übernahm der 2014 verstorbene Hans Funck.
Bei seiner Uraufführung im Rahmen des Saarbrücker Festivals Max-Ophüls-Preis wurde ‘Freistatt’ mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.


Die Pubertät gilt als eine der schwierigsten Lebensspannen für jeden Menschen.
Aufbegehren gegen die Normen der Eltern und Ablehnung ihrer Haltungen sind an der Tagesordnung.
Für Erziehende gilt es, junge Menschen gerade in dieser auch für sie selbst schwierigen Zeit behutsam zu leiten.
Noch heute aber gibt es Erwachsene, die Zucht und Ordnung für das A und O in der Erziehung halten.
Bis vor einigen Jahren kam es gar nicht selten vor, dass Jugendliche, die als schwierig galten, in Erziehungsheime abgeschoben wurden.
Die auf Tatsachen basierende Geschichte eines solchen Jungen erzählt Regisseur und Drehbuchmitautor Marc Brummund nun in ‘Freistatt’, seinem ersten Spielfilm für das Kino.

Wolfgang (Louis Hofmann), die Hauptfigur, ist 14 Jahre alt. Um ihn herum gärt es im Sommer 1968.
Selbst in der Kleinstadt, in der er aufwächst, brodelt es. Auch hier sehnen sich die jungen Leute nach Gedankenfreiheit.
Mutter Ingrid (Katharina Lorenz) und Stiefvater Heinz (Uwe Bohm) verstehen den Jungen nicht.
Heinz wittert unentwegt Ungehorsam und Missachtung seiner Rolle als Familienoberhaupt.
Doch es gelingt ihm nicht, Wolfgang nach seinem Maß zu formen.
Deshalb wird der Junge in die Diakonie Freistatt zwangseingeliefert.

Im Heim herrschen geradezu mittelalterliche Regeln der Unterordnung.
Die Zöglinge müssen harte körperliche Arbeit verrichten, psychischer Terror ist an der Tagesordnung.
Wolfgang will sich nicht unterkriegen lassen.
Er widersetzt sich.
Was dazu führt, dass er immer schlimmerer Drangsal ausgesetzt wird.
Mit aller Macht soll ihm das Rückgrat gebrochen werden.
Die Folgen sind dramatisch.

Brummond erzählt die harte Geschichte in schnörkellosen Bildern.
Die Gewalt, der die Jugendlichen ausgesetzt sind, ist allgegenwärtig.
Da braucht es nur wenige Szenen, in denen die Brutalität der “Erziehung” deutlich wird.
Das vom bravourös agierenden Louis Hofmann angeführte Ensemble packt mit einem fast dokumentarisch anmutenden Spiel, das jeglichen denkbaren Anflug von Sentimentalität vermeidet.
Durch die Präsenz der Akteure ist man als Zuschauer sofort mitten im Geschehen und emotional gepackt

HINTERGRUND: Die Diakonie ‘Freistatt’ ist übrigens keine Erfindung!
Es hat dieses Heim tatsächlich in Niedersachsen, in der Nähe von Marc Brummonds Heimatstadt Diepholz, gegeben.
1899 gegründet, mussten hier jahrzehntelang als “schwer erziehbar” geltende Jugendliche ohne Entlohnung im Hochmoor Torf stechen.

In den 1950er und 1960er Jahren wurden über eine halbe Million Kinder und Jugendliche in kirchlichen und staatlichen Heimen der Bundesrepublik oft seelisch und körperlich schwer misshandelt und als billige Arbeitskräfte ausgebeutet.
Viele leiden noch heute unter dem Erlebten, verschweigen diesen Teil ihres Lebens aber aus Scham, selbst gegenüber Angehörigen.

Manchmal genügte den Ämtern der Hinweis der Nachbarn auf angeblich unsittlichen Lebenswandel, Nichtigkeiten wie „Arbeitsbummelei“, Schulschwänzen oder auch die reine Willkür der Eltern, um junge Menschen für Jahre in Heimen verschwinden zu lassen.

In diesen Institutionen regierten gar nicht oder nur unzureichend ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, die oft einem Orden angehörten und als Verfechter christlicher Werte auftraten, mit aller Härte.
Den Jugendlichen wurden keine oder nur mangelhafte Ausbildungsmöglichkeiten gewährt.
Nur wenig von dem, was im Inneren der angeblichen Erziehungsheimen stattfand, drang damals nach außen.

Die „Heimkampagne“, ausgelöst von Andreas Baader und Ulrike Meinhof, und die Proteste der 68er brachten nur allmählich einen Wandel.
Der „Runde Tisch Heimerziehung“ des Deutschen Bundestages verabschiedete erst Ende 2010 eine kaum befriedigende und sich nun hinschleppende Entschädigung der Betroffenen.

Die Diakonie Freistatt im Kreis Diepholz, Niedersachsen, galt bis in die 1970er Jahre als eine der härtesten Einrichtungen der Jugendfürsorgeerziehung und Endstation vieler Heimkarrieren.
Als Außenstelle der in Nordrhein-Westfalen gegründeten und ansässigen von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel war sie, weit abgeschieden und umgeben vom norddeutschen Moor, mit Presstorfproduktion, Schlossereien und Schmieden als reiner Wirtschaftsbetrieb konzipiert, der die billigen Arbeitskräfte brutal ausnutzte.
Die im damaligen Freistatt erlittenen Schicksale sind in ihrer Drastik exemplarisch für das Unrecht, das jungen Menschen überall in solchen Heimen in der Bundesrepublik angetan wurde und das sie im Namen von Kirche und Staat kollektiv meist fu?rs ganze Leben gebrochen und verroht hat.

Freistatt ist heute eine der wenigen offenen Anstalten.
Man gibt zu, dass hier im Namen der Kirche unsägliche Dinge geschehen sind.
Ehemalige dürfen ihre alten Akten sehen, und die Heimleitung stellt Bescheinigungen aus, auf denen steht, dass die damalige Arbeit nach heutigen Maßstäben sozialversicherungspflichtig gewesen wäre.
Neben dem initiierenden Sachbuch von Peter Wensierski „Schläge im Namen des Herrn“ (2006) war speziell die von den von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel selbst in Auftrag gegebene Studie „Endstation Freistatt“ von 2009, über die Fürsorgeerziehung bis in die 1970er Jahre, Auslöser für diesen Film.

Sein wichtigster Bezug aber ist die von Marc Brummund in vielstündigen Gesprächen aufgezeichnete Geschichte von Wolfgang Rosenkötter, einst Zögling und nun Ombudsmann in Freistatt, die neben weiteren Schilderungen von Erziehern und Betroffenen, auch in anderen Heimen, das Drehbuch von Nicole Armbruster und Marc Brummund mit persönlicher Erfahrung grundierte.
Die Leitung der Diakonie Freistatt hat das Projekt von Beginn an unterstützt und, quasi exklusiv, die Dreharbeiten an den noch weitgehend existierenden Originalschauplätzen ermöglicht


 
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