Loveparade-Anklage – Entscheidung könnte im Mai fallen !
Duisburg. Seit zwei Jahren prüft das Gericht die Loveparade-Anklage.
Der Druck auf die drei Richter ist enorm.
Warum dauert es so lange?
Ein Erklärungsversuch.
Den genauen Termin für den Tag der Entscheidung kennt Matthias Breidenstein nicht.
Aber in aller Vorsicht sagt der Sprecher des Duisburger Landgerichts: „Mein Gefühl sagt mir, dass das jetzt bis Ende Mai etwas geben muss, ich kann es mir nicht anders vorstellen.“
Das – das ist die Antwort auf die Frage, ob es fast sechs Jahre nach der Loveparade-Tragödie in Duisburg mit 21 Toten und 541 Verletzten überhaupt zu einem Strafprozess kommen wird.
Seit mehr als zwei Jahren prüft das Gericht, ob es die Anklage gegen sechs Beschuldigte der Stadt und vier des Veranstalters des Partyspektakels zulassen wird.
Der öffentliche Druck auf die drei Richter ist enorm
Der öffentliche Druck auf die drei Richter der zuständigen Kammer ist enorm.
Aber rein rechtlich ist das kein Kriterium.
„Der Prozess darf nur eröffnet werden, wenn die Kammer es für überwiegend wahrscheinlich hält, dass es zu einem Urteil kommen kann“, erklärt Breidenstein.
Das gebiete der „Beschuldigtenschutz“.
Für den Düsseldorfer Anwalt Julius Reiter, der etwa 100 Opfer vertritt, ist das keine Frage: „Es wäre eine Bankrotterklärung für die Justiz, wenn sie nicht in der Lage wäre, bei 21 Toten und solch offensichtlichen Fehlplanungen im Vorfeld der Veranstaltung ein Urteil zustande zu bringen.“
Er gehe deshalb davon aus, „dass die Anklage zugelassen wird“.
Das sieht die Gegenseite anders und warnt vor „einem Verfahren für die Galerie“.
Der Fall sei zu komplex, glaubt der Verteidiger eines Beschuldigten, um eine individuelle Schuld festzustellen.
„Das“, so der Anwalt, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, „gibt unser Strafrecht einfach nicht her.“
Es sei eine „Katastrophe für die Opfer“, räumt er ein.
„Aber ist es am Ende nicht schlimmer für sie, so zu tun, als könnte man das in einem jahrelangen Prozess klären, als gleich zu sagen, dass das nichts wird?“
Große Unglücke werden nicht immer gesühnt
Dass Unglücke großer Dimension nicht zwangsläufig strafrechtlich gesühnt werden, zeigt unter anderem die Brandkatastrophe vor 20 Jahren am Düsseldorfer Flughafen: Das Gericht stellte den Mammutprozess nach zwei Jahren und mehreren Pannen im Oktober 2001 ein.
Die neun Angeklagten kamen mit Geldauflagen zwischen 6000 und 40 000 Mark davon und verließen unter lautstarkem Protest der Nebenkläger straffrei den Gerichtssaal.
Mit Aussicht auf geringe Strafen sei es weder den Angeklagten noch der Öffentlichkeit zumutbar, das Millionen verschlingende Verfahren weiter fortzusetzen, verteidigte sich die Staatsanwaltschaft damals.
Die Angst vor einem derartigen Scheitern eines Prozesses dürfte die Gründlichkeit der Duisburger Richter bei ihrem Prüfauftrag zusätzlich beflügeln.
Die drei, so Breidenstein, beschäftigten sich tagein tagaus praktisch mit nichts anderem.
„Die Kammer“, so der Gerichtssprecher, „hatte nur vereinzelte Schwurgerichtsverfahren, in diesem Jahr war es bisher eins.“
Warum dauert es so lang bis zur Entscheidung?
Dreieinhalb Jahre haben alleine die Ankläger gebraucht, um ihre Ermittlungen abzuschließen.
Sie vernahmen mehr als 3500 Zeugen und erarbeiteten eine Hauptakte mit 37 000 Seiten.
Dazu kamen 19 Kartons mit Beweisgegenständen, Datenträger mit einem Volumen von mittlerweile 9,3 Terabyte, darunter 963 Stunden Videomaterial.
Die Anklageschrift ist 556 Seiten dick.
Schon im Februar 2014 schloss das Gericht mit der Düsseldorfer Messe einen Vertrag: Angesichts des zu erwartenden Andrangs sollte ein möglicher Prozess ins Kongresszentrum mit 450 Plätzen verlegt werden.
Zwei Jahre her.
Und dann?
Verzögerungen, Ergänzungen, Nachfragen, Einsprüche – Verteidiger, die mit ihren Eingaben so fleißig waren, wie sonst erst im Hauptverfahren.
Während eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft noch im vergangenen Jahr beteuerte, aus Sicht ihrer Behörde sei „alles glatt gelaufen“, hagelte es Kritik von den Anwälten der Beschuldigten.
Und selbst das Gericht monierte die Arbeit der Ankläger: Dem britischen Panikforscher Keith Still, auf dessen Expertise sich die Anklage maßgeblich stützt, schickte es 75 Zusatzfragen in 15 Komplexen.
Dabei hatte der Experte aus Manchester schon drei Jahre an seinem Gutachten samt 21-seitigem Abschlussbericht herumgedoktert.
Haarsträubende Übersetzungsfehler machten die Runde, es wurde nachgebessert, wieder nachgebessert und ein Ergänzungsgutachten verfasst.
Auf jede Veränderung aber folgten neue Kommentare und Einspruchsfristen, erst seit November 2015 sei „inhaltlich nichts Bedeutendes mehr dazugekommen“, resümiert Breidenstein.
Sollte es zum Prozess kommen, werden sich die Verteidiger zuerst auf Stills Gutachten einschießen, in dem sie zahllose Formfehler sehen.
Menschen zweifeln am Rechtsstaat
Der gefühlte Stillstand lähmt die Opfer.
„Nach so einer langen Zeit zweifeln die Menschen natürlich am Rechtsstaat“, sagt Julius Reiter, der Anwalt, der mit Hinterbliebenen in ständigem Austausch steht.
Manch einer mag sich in seinem Misstrauen durch das Scheitern der Zivilklagen bestärkt fühlen, die unlängst fast durchgängig abgeschmettert wurden.
Bei genauem Hinsehen allerdings keine Überraschung: Unter den Klägern waren überwiegend Augenzeugen, die keine Verletzungen davongetragen hatten.
„Es gibt Verschwörungstheorien bei einigen, dass ein Strafprozess ja gar nicht gewollt sei“, erzählt Julius Reiter.
„Das ist natürlich Quatsch, aber ich kann die Leute verstehen.“