«Die Autobahn war vor mir völlig frei»

pini

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«Die Autobahn war vor mir völlig frei»

«Die Autobahn war vor mir völlig frei»

Eine 86-Jährige schlich mit Tempo 70 auf der linken Überholspur der Autobahn durchs Baselbiet und wurde dafür gebüsst. Sie hat gar nicht begriffen, was rund um sie herum passiert.


Auf der Autobahn muss immer rechts gefahren werden, wenn nicht gerade überholt wird.
Im Baselbiet wurde im letzten Jahr tatsächlich mal eine Linksschleicherin gebüsst
(Symbolbild).
Bild: Keystone

Hedwig Tanner* versteht einfach nicht, wieso sie gebüsst wurde. Die 86-Jährige wollte doch nur von ihrem Wohnort Augst nach Thürnen fahren, um jemanden zu besuchen. Gekommen ist sie im März 2014 allerdings nur bis Sissach, dort wurde sie von der Polizei gestoppt. Sie habe auf der A22 von Frenkendorf bis nach der Umfahrung Liestal ohne Unterbruch den Blinker gesetzt. Anschliessend sei sie von Lausen bis zur Ausfahrt Sissach konsequent mit Tempo 70 auf der linken Spur gefahren und habe den Verkehr blockiert.

Weil sie Einsprache gegen den Strafbefehl erhob, musste sie gestern vor dem Strafgericht aussagen. Dort bestritt sie das Dauerblinken vehement. Und für ihre Linksschleicherei hatte sie eine ganz eigene Version der Geschichte: «Ich fuhr mit 70 bis 80 km/h an der Ausfahrt Altmarkt vorbei. Kurz vor der Unterführung beim Ortsbeginn Lausen musste ich jemanden überholen, der ganz langsam gefahren ist. Ich wollte ihn mit etwa 70 km/h überholen. Wir fuhren ein Weile nebeneinander auf gleicher Höhe. Nach der Unterführung, dort wo das 100er-Schild steht, gab er plötzlich Gas. Er war wohl erschrocken. Plötzlich war er aber wieder hinter mir!»

Anweisung der Polizei ignoriert

Was die betagte Frau auch gestern nicht begriffen hat: Seit Frenkendorf fuhren hinter ihr gleich zwei Patrouillenfahrzeuge der Baselbieter Polizei. In Lausen hatte einer der Polizisten versucht, Tanner zum Anhalten zu bewegen, hat kurze Zeit sogar das Blaulicht eingeschaltet und das Horn ertönen lassen. Die rollende Verkehrsblockade liess sich davon jedoch nicht weiter beeindrucken: Tanner schlich unbeirrt auf der linken Spur weiter. Bei der Rentnerin tönte das dann so: «Plötzlich gab der Mann hinter mir ein Zeichen, so eine blaue Tafel. Ich weiss aber nicht mehr, was dort drauf stand. Ich bin einfach weitergefahren. Dann hat er mich überholt und bei der Ausfahrt Sissach angehalten. Er ist zu meinem Auto gekommen. Ich stieg nicht aus. Er fragte mich: «Warum sind Sie mit nur 70 km/h gefahren?» Ich sagte, dass ich doch nicht schneller fahren kann, weil ja nur 100 erlaubt sind. Plötzlich kam noch eine Polizistin mit ihrem Polizeiauto. Die war vorher nicht dort! Die hatte ja gar nichts mit dem Fall zu tun! Dann hat der Mann mit der Polizistin gesprochen. Anschliessend wollte der Mann, dass ich einen Zettel unterschreibe. Ich habe mich natürlich geweigert.»

Nach langem Hin und Her konnte die Polizei Tanner dann offenbar doch zur Unterschrift bewegen, mit der sie den Sachverhalt akzeptierte. «Die Polizistin sagte zu mir, es ändere ja ohnehin nichts, wenn ich nicht unterschreibe. Gerichtspräsident Daniel Seiler fragte trotzdem nochmals ganz vorsichtig, ob sie zwischen Lausen und Sissach an jenem Samstagnachmittag tatsächlich die ganze Zeit auf der linken Spur gefahren sei. Tanner gab energisch Antwort: «Ja! Aber das ist ja nicht so weit! Und es ist eine gerade Strecke! Dann hat die Polizei noch behauptet, dass es viel Verkehr hatte. Aber das stimmt ja gar nicht! Vor mir war alles frei!»

Tanner redete sich immer weiter in Rage und bezichtigte die Polizei, gelogen zu haben. Auch ihr Sohn, der die Seniorin als Wahlverteidiger begleitete, konstruierte eine Verschwörung der Polizei. «Die ganze Geschichte erscheint etwas hingezaubert.» Er störte sich an der Tatsache, dass der Polizist neun Monate nach dem Vorfall bei der Befragung durch die Staatsanwaltschaft zuerst aussagte, er und seine Kollegin seien mit einem Auto unterwegs gewesen. Später wurde diese Aussage korrigiert, weil er nicht mehr daran gedacht hatte, dass die beiden unterwegs waren, um ein Patrouillenfahrzeug abzuholen.

Auch fand es der Sohn verständlich, dass eine ältere Autofahrerin verunsichert ist, wenn ein Autofahrer auf der rechten Spur der Autobahn plötzlich Gas gibt, wenn man ihn überholen will. Seine Mutter sei aber geistig noch absolut zurechnungsfähig, das sei ihr attestiert worden.

Durch Fahrprüfung gerasselt

Gerichtspräsident Seiler hörte sich die Ausführungen von Mutter und Sohn geduldig und mit dem einen oder anderen Schmunzeln an. Schliesslich verurteilte er die Rentnerin aber wegen der Verkehrsregelverletzung zu einer Busse von 160 Franken und bestätigte den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft inhaltlich. Der Richter nahm sich bei der Urteilsbegründung viel Zeit und versuchte der alten Dame in wattierten Worten zu erklären, dass es für ihn schwierig sei, sie nicht zu verurteilen, wenn zwei Polizisten ihr Fehlverhalten bezeugen und sie im wesentlichen den Sachverhalt auch zugegeben habe. «Wenn wir nur den Leuten glauben, die auf der Anklagebank sitzen, müssten wir fast alle freisprechen.»

Den Führerschein hat Tanner nicht mehr. Sie war im Anschluss an die Episode auf der Autobahn neben einer ärztlichen Kontrolle auch zu einer praktischen Fahrprüfung aufgeboten worden. Obwohl sie extra noch vier Fahrstunden bei einem pensionierten Fahrlehrer genommen hatte, ist sie durch die Prüfung gefallen. Sie habe einige Fehler gemacht, erklärte sie dem Richter. «Ich war halt aufgeregt.» *Name geändert

QUELLE:
 
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