Der Islamische Staat im Zenit seiner Macht

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Ruhe in Frieden
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Der Islamische Staat hat Milliarden-Ausgaben. Die UN sind den Finanzströmen auf die Spur gekommen und bereiten Sanktionen vor. Zudem wachsen im Kalifat Probleme, die den IS mehr bedrohen als US-Jets.

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In James Foleys Gesichtsausdruck lag verzweifelter Trotz. Den letzten Gang musste der 40-jährige Journalist in billigen Plastiksandalen antreten. Der Amerikaner trug ein orangefarbenes Häftlingskleid über dem ausgezehrten Körper, wie es auch für Gefangene in Guantánamo vorgeschrieben ist. Im August dieses Jahres fuhren ihn seine Mörder nach zweijähriger Geiselhaft in die Berge nahe der syrischen Stadt Rakka. Dort schnitten ihm die Killer des "Islamischen Staates" vor laufender Kamera die Kehle durch.

Foley war nicht das erste und nicht das letzte Opfer. Zwei Wochen später wurde Steven Sotloff, ebenfalls ein US-Reporter, auf die gleiche Weise hingerichtet. Auch die Briten David Haines und Alan Henning starben öffentlich. Zuletzt nun der US-Entwicklungshelfer Peter Kassig. Die Videos findet man im Internet.

Doch der "Islamische Staat" (IS) mordet nicht wahllos. Er geht in der Wahl seiner Opfer mit kühler Berechnung vor. Dutzende sitzen noch in Geiselhaft. Nicht alle werden sterben. Dem IS geht es bei seiner mörderischen Propaganda zwar um die Demonstration von Macht. Gleichzeitig geht es immer ums Geld.

In den blutrünstigen Inszenierungen der Terrormiliz steckt eine geheime Botschaft: Ohne Lösegeld ist ein Leben hier nichts mehr wert. Die Opfer Sotloff, Foley, Haines, Henning und Kassig besaßen den falschen Pass. Während französische und spanische Geiseln offenbar gegen die Zahlung hoher Summen vom IS freigelassen wurden, sind weder die amerikanische noch die britische Regierung bereit, ihre Bürger aus den Folterzellen des "Islamischen Staates" herauszukaufen. Entsprechend sortiert der IS seine Gefangenen: Geiseln aus zahlungsbereiten Ländern wie Spanien oder Frankreich werden von Briten und Amerikanern räumlich getrennt. Die einen bedeuten bares Geld. Die anderen haben nur noch propagandistischen Wert.

Drastische Sanktionen gegen Helfer des IS

Geiselnahmen gehören zum Geschäftsmodell des "Islamischen Staates". Denn das Kalifat braucht Geld, viel Geld. Nach dem alten Grundsatz "Follow the Money", der schon bei der Gangsterjagd in den 20er- und 30er-Jahren galt, spüren nicht nur Geheimdienste den Finanzen nach. Auch die Vereinten Nationen haben sich inzwischen eingeschaltet, um die Struktur und die materielle Basis des IS aufzudecken. Eine Gruppe von Spezialisten, von denen sich einige bereits mit Maßnahmen gegen das iranische Atomprogramm befasst hatten, bereitet gegenwärtig Sanktionen gegen das Imperium der schwarzen Flaggen vor. Noch im November sollen dem Weltsicherheitsrat nach Informationen der "Welt am Sonntag" drastische Maßnahmen gegen das Kalifat und seine Helfer vorgelegt werden.

Zusammengestellt wurde der Katalog vom "Al Qaida/Taliban Monitoring Team" der UN. Die Gruppe hochkarätiger Experten, darunter nicht wenige ehemalige Mitarbeiter von Geheimdiensten, ist direkt beim Sicherheitsrat angesiedelt. Geleitet wird das Team von Alexander Evans, einem agilen Briten, der sein Handwerk im Regierungsdienst in London gelernt hat.

In den Sanktions-Vorschlägen werden unter anderem Geschäftsleute namentlich aufgelistet, die dem IS zum Beispiel beim Verkauf von Öl behilflich sind. Deren Vermögen soll eingefroren, sie selbst mit internationalen Einreise- und Flugverboten belegt werden. Auch die legalen Geschäftspartner der IS-Mittelsmänner befinden sich im Visier des Sicherheitsrats. Von den Vorschlägen versprechen sich die Finanzfahnder einen "störenden Effekt". Die neuen Maßnahmen der UN sind jedoch mehr als ein Störmanöver – sie zielen auf die ökonomischen Grundlagen des Regimes.

Auch privaten Sponsoren des Kalifats sind die Fahnder auf der Spur, darunter offenbar Millionäre aus Katar und Saudi-Arabien. Selbst Hilfsorganisationen könnten bald Ärger bekommen. Manche muslimische NGOs, die für Kriegsopfer in Syrien Geld sammeln, sind in Wahrheit nichts weiter als Tarnorganisationen und Geldwaschanlagen des IS.

Im Herrschaftsbereich der Terrormiliz, der sich inzwischen von der libanesischen Grenze über weite Teile Syriens bis vor die Tore Bagdads erstreckt, leben über acht Millionen Menschen – etwa so viele wie in Portugal oder Österreich. Anders als al-Qaida, die ihr Geld vor allem in die Planung und Durchführung von Terroranschlägen steckte, muss das Kalifat einen regelrechten Staatshaushalt verwalten. Der IS muss Beamte bezahlen, Straßen bauen, Raffinerien betreiben, Sozialausgaben ausschütten. Er muss sich die Loyalität von sunnitischen Stämmen und militanten Gruppen erkaufen. Die Ausgaben verschlingen Unsummen und könnten nach Schätzungen westlicher Geheimdienste die Einnahmen schon bald weit übersteigen.

"Reichste Terrororganisation der Welt"

Schon im Juni berichtete der britische "Guardian" über die innere Struktur des Kalifats und dessen Finanzierungssystem. Der irakischen Regierung waren bei einer Razzia vertrauliche Dokumente in die Hände gefallen. Doch das Monitoring-Team der UN verfügt über weit mehr exklusive Informationen. Die kleine, aber schlagkräftige Truppe ist weltweit gut vernetzt und unterhält sowohl in Moskau wie in Washington, Berlin oder London beste Beziehungen zu den jeweiligen Geheimdiensten. Die Frage, wie der "Islamische Staat" seinen riesigen Finanzbedarf deckt, steht inzwischen im Mittelpunkt der internationalen Counter-Strategie.

Der Unterhalt der 40.000 Mann starken Terrormiliz, deren Kämpfer monatlich mit bis zu 600 Dollar pro Mann alimentiert werden und die ständig mit Waffen und Munition versorgt werden müssen, ist nur ein Kostenfaktor von vielen. Dagegen stehen mindestens sechs Millionen Dollar täglicher Einnahmen, schätzen Geheimdienste. Das ergibt einen Jahresetat von beinahe 2,2 Milliarden Dollar und macht IS zur "reichsten Terrororganisation der Welt", wie David Cohen, Staatsekretär beim US-Finanzministerium in Washington, kürzlich formulierte.

Was immer sich im Herrschaftsbereich des Kalifats zu Geld machen lässt, wird zu Geld gemacht. Als Erstes wurden nach dem Einmarsch der Terrormilizen in syrische und irakische Städte die Banken geplündert wurden. Allein dadurch sollen nach Recherchen der UN bis zu 1,5 Milliarden Dollar in die Kriegskassen des "Islamischen Staats" geflossen sein.

Jesidenmädchen werden an Bordelle verkauft

Beim Thema Geld gehen die religiösen Fanatiker bemerkenswert pragmatisch vor. Nach Angaben von Zeugen, die den UN vorliegen, wird im IS-Herrschaftsbereich beispielsweise Bankbeamten und Arbeitern in Ölraffinerien kein Haar gekrümmt. Lebend nützen die Fachleute dem Terrorregime mehr als tot. Selbst schiitische, jesidische und kurdische Angestellte haben in diesen Branchen bis heute überlebt.

Gleichzeitig werden jesidische Mädchen und Frauen auf Sklavenmärkten verkauft und müssen anschließend ihr Leben als Prostituierte in den Bordellen der arabischen Welt fristen. Diesem grausamen Schicksal können sie nur entrinnen, wenn sie zum Islam konvertieren und mit einem Gotteskrieger zwangsverheiratet werden. Bereits 4000 Frauen, schätzen Hilfsorganisationen, wurden vor diese Wahl gestellt. Manche Mädchen waren erst 14 Jahre alt.

Neben dem Geschäft mit westlichen Geiseln werden auch Muslime entführt. Schutzgelderpressung ist eine weitere Einnahmequelle. Doch nicht nur aus Geiseln und Sklavinnen lässt sich Geld machen. Das Kalifat kontrolliert auf seinem Territorium etwa 12.000 Grabungsstätten. Manche Anlagen sind über 10.000 Jahre alt. Viele dieser archäologischen Stätten wurden in den vergangenen Monaten in Baustellen verwandelt.

In der internationalen Sammlerszene herrscht buchstäblich Goldgräberstimmung. Ob Münzen, Vasen, Amphoren oder altertümlicher Schmuck: Der schwarze Markt wird mit Artefakten geradezu überschwemmt. Nicht wenige Stücke fanden sich in den vergangenen Monaten sogar in den großen Auktionshäusern westlicher Metropolen wieder. Die Deals werden oft über türkische und jordanische Mittelsmänner abgewickelt. Auch diese Händler befinden sich auf der Watchlist der UN-Fahnder.

Raubzug in deutschen Kirchen

Im Kalifat findet sich kaum eine Nische, aus der nicht Geld herausgeholt wird. Jeder Gemüse- oder Teppichhändler wird mit bis zu zehn Prozent auf den Umsatz besteuert. Wer am Freitag zu spät in die Moschee kommt, zahlt empfindliche Strafen. Hinter der ausgeklügelten Strategie vermuten Experten alte Kader von Saddam Husseins Baath-Partei, die sich dem IS angedient haben.

Wie angespannt die Finanzlage im Kalifat sein muss, zeigte sich diese Woche auch in Deutschland: Bei einer Großrazzia gegen Salafisten wurden in fünf nordrhein-westfälischen Städten neun Männer festgenommen. Mit dem Diebstahl und dem Verkauf von sakralen Gegenständen aus Kirchen wollten sie das Terrorregime unterstützen. Selbst über den vermeintlich lukrativen Verkauf von Wachteleiern dachten die Sympathisanten nach. Auch dieser bizarre Vorfall wurde von den UN sorgsam registriert.

Wesentlich früher als die meisten westlichen Geheimdienste registrierte das Monitoring Team, was sich in Syrien zusammenbraut. Bereits im Frühjahr 2013, bei einem Treffen mit russischen Geheimdienstlern in Kasachstan, diskutierten die UN-Fahnder über eine neue Terrorgruppe, die ein riesiges Gefahrenpotenzial in sich barg: den "Islamischen Staat".

Eine Million Dollar täglich

Nach zwei Jahren intensiver Recherche ist Evans Analysten und Experten nun eines ganz klar: Der schwächste Punkt im Imperium der schwarzen Flaggen ist zugleich das finanzschwerste Asset des IS – das Öl. Etwa eine Million Dollar pro Tag fließen allein aus den Ölquellen in die Kassen des Kalifats. Obwohl der IS nur etwa ein Fünftel der rund 400 Ölfelder in Syrien und im Irak ausbeuten kann, war das Kalifat in der Lage, zeitweise bis zu 385.000 Barrel pro Tag zu fördern.

Doch Öl allein macht den IS nicht reich. Viel wichtiger sind die Raffinerien, die das schwarze Gold in Benzin und Diesel verwandeln. Von dort aus wird es mithilfe syrischer, türkischer, irakischer und kurdischer Schmuggler in benachbarte Länder gebracht. Aber das Geschäft wird für den IS immer schwieriger. Der New Yorker Nichtregierungsorganisation "Counter Terrorism Project" gelang es nach intensiven Recherchen, Dutzende Geschäftsleute zu identifizieren, die dem IS beim Benzinbusiness behilflich sind. Im Herbst sollen die Daten in einer "Name and shame"-Kampagne veröffentlicht werden. Auch Evans Monitoring Team verfügt über entsprechende Informationen – und damit über Sanktionsmöglichkeiten.

Während die Welt auf die Schlacht um Kobani schaute, geriet der strategisch wichtigere Kampf um die Raffinerien etwas aus dem Blick. Am vergangenen Freitag verlor der IS eine weitere Anlage in der Raffineriestadt Baidschi an irakische Regierungstruppen. Die Kämpfe gestalten sich militärisch als ausgesprochen schwierig. Keine Seite setzt schwere Waffen ein, die Anlagen sind wertvoll. Ein Flächenbombardement von Ölfeldern kommt schon gar nicht infrage – die ökologischen Folgen wären unabsehbar.

Sunniten könnten aufbegehren

Deshalb könnte es gut sein, dass der "Islamische Staat" im Moment im Zenit seiner Macht steht. Doch schon der Blick ins kommende Jahr zeigt, dass sich das Kalifat mit viel größeren Problemen als amerikanischen Kampfjets und kurdischen Kämpfern herumschlagen muss.

Im Sommer haben die Terrormilizen Zehntausende Bauern vertrieben und Weizendepots konfisziert. Nun bestellt niemand mehr die Felder. Die Äcker im Kalifat liegen weitgehend brach. Auf IS kommen also zusätzliche Ausgaben für Getreide zu. Sollte das Geld nicht vorhanden sein, droht eine Hungersnot biblischen Ausmaßes, befürchten Analysten der UN.

Spätestens im kommenden Jahr wird sich zeigen, ob der "Islamische Staat" mit seinen 40.000 Milizionären in der Lage ist, acht Millionen Sunniten unter Kontrolle zu halten. Hungerrevolten sind in dieser Region nicht selten. Das finanzielle Modell des Kalifats aber setzt vor allem auf Raubbau. Auf dieses Prinzip haben schon viele Diktaturen gesetzt. Am Ende brachen sie zusammen – weil das Geld ausging und nichts mehr da war, was man plündern konnte.

Quelle:

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