Wie der Staat klammheimlich seine Bürger ausnimmt

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Ruhe in Frieden
Wie der Staat klammheimlich seine Bürger ausnimmt

Eine neue Studie enthüllt die Ausmaße der kalten Progression: Rund 3300 Euro mehr Steuern muss ein Durchschnittsverdiener zahlen. In der CDU wächst darüber der Unmut – beim Parteitag droht Ärger.

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Für Carsten Linnemann sind Steuerentlastungen eine Herzensangelegenheit. Auf dem CDU-Bundesparteitag im Dezember wird der Chef des Unionswirtschaftsflügels deshalb einen Antrag zum Abbau der "kalten Progression" einbringen. Rund 70 Parteiorganisationen der CDU unterstützen seinen Antrag mit dem Titel "Steuerbremse muss kommen!"

Doch Linnemann kämpft gegen mächtige Gegner. Die Parteispitze um Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat sich gegen Steuersenkungen gestellt. Schäuble, so ist in der Union zu hören, will auf dem Parteitag in Köln am liebsten gar nicht erst über das Thema diskutieren. Nun bekommt Linnemann Rückenwind durch eine neue Studie. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) hat im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung die Effekte der kalten Progression untersucht – und wie diese realistisch abgemildert werden können. Die Studie liegt der "Welt" vorab vor.

Demnach wird der Staat von 2015 bis 2018 bei einer unterstellten Preissteigerungsrate von einem Prozent 15 Milliarden Euro zusätzlich durch die "heimlichen Steuererhöhungen" einnehmen. Liegt die Inflation im Schnitt bei 1,5 Prozent, erhöhen sich die Einnahmen des Fiskus sogar auf 23,8 Milliarden Euro.

Wer wenig verdient, ist besonders belastet

Leidtragende sind die Steuerzahler: Ein Single mit einem Jahresbruttoeinkommen von fast 54.000 Euro muss bei einer Inflationsrate von 1,5 Prozent zwischen 2014 und 2018 wegen der kalten Progression ( ) insgesamt 1057 Euro mehr Steuern zahlen. Für Doppelverdiener-Haushalte mit einem Bruttojahreseinkommen von rund 85.500 Euro schlägt der Effekt mit 1435 Euro zu Buche.

Ein alleinerziehender Durchschnittsverdiener mit einem Einkommen von rund 27.000 Euro im Jahr muss wegen der kalten Progression zwar "nur" 453 Euro mehr zahlen – allerdings ist die Belastung ausgerechnet in dieser ärmeren Einkommensgruppe relativ gesehen stärker als bei Gutverdienern.

Als kalte Progression wird jener Effekt bezeichnet, wonach bei Lohnerhöhungen, die nur die Inflation ausgleichen, dennoch die Steuerlast steigt. Der Grund dafür liegt im Steuertarif: Mit höherem Einkommen steigt auch der Steuertarif überdurchschnittlich. Die kalte Progression kann deshalb dazu führen, dass sich Arbeitnehmer trotz Lohnerhöhungen weniger leisten können. In anderen Ländern wird der Tarif regelmäßig verändert – in Deutschland bisher nicht. Letztmals wurde der Steuertarif im Jahr 2010 angeglichen. 2013 und 2014 wurde lediglich der Grundfreibetrag erhöht.

Ein neuer Vorschlag nennt sich "Tarif auf Rädern"

Derzeit ist die Inflationsrate zwar gering – und damit die kalte Progression. Schäuble spottet daher gerne, mit einem Abbau des Effekts könne man sich nur zwei Tassen Kaffee kaufen. Allerdings haben Steuerzahler seit der letzten Korrektur der Tarife im Jahr 2010 viel Geld wegen des Effekts an den Fiskus abgedrückt, wie zusätzliche Berechnungen des IW Köln für die "Welt" zeigen: Ein Alleinverdiener mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von rund 52.684 Euro muss von 2010 bis 2018 rund 3300 Euro mehr Steuern zahlen. Bei dem Doppelverdiener-Haushalt steigt der Effekt auf 5040 Euro. Und der alleinerziehende Durchschnittsverdiener muss 1152 Euro mehr zahlen.

Über die Zeit kommt so eine ordentliche Stange Geld für den Staat zusammen. Geld, auf das Finanzminister Schäuble nicht verzichten will. Denn für den 72-Jährigen hat der ausgeglichene Haushalt oberste Priorität. Die IW-Studie skizziert aber Wege, wie ein Abbau der kalten Progression dennoch funktionieren könnte. Die Studie schlägt einen "Tarif auf Rädern" vor, also eine automatische Anpassung an die Inflationsrate. Allerdings soll der Gesetzgeber jederzeit entscheiden können, "die Anpassung zum Abbau der kalten Progression auszusetzen und damit höhere Einnahmen zu erzielen", heißt es.

Darüber hinaus spielt Studienautor Thilo Schäfer weitere Varianten durch: So könnte der Gesetzgeber nur alle zwei Jahre die Tarifgrenzen anpassen, beispielsweise 2016 und 2018. Bei einer Inflationsrate von zwei Prozent würde die Belastung für die Steuerzahler um 12,5 Milliarden Euro gemindert, beim Staat verblieben aber immerhin noch 19 Milliarden Euro der inflationsbedingten Mehreinnahmen.

Die gleichen Summen kämen heraus, wenn der Staat ab 2016 den Tarif jährlich anpasst, aber als Startpunkt zur Begradigung des Effekts das Jahr 2015 wählt und nicht wie in der ersten Variante das Jahr 2014. "Die Studie zeigt: Über die Jahre kommen gewaltige Summen zusammen, die der Staat den Bürgern und Unternehmen heimlich entzieht – sogar bei niedriger Inflationsrate", sagt MIT-Chef Linnemann. "Wir als CDU sollten auf dem Parteitag ein deutliches Signal setzen, dass wir uns nun verstärkt um die Leistungsträger in unserer Gesellschaft kümmern wollen."

Bei den Steuern hat die CDU keine gemeinsame Linie

Unterstützung bekommt er vom Arbeitnehmerflügel der Union (CDA): "Gerade bei Geringverdienern schlägt die kalte Progression überproportional stark zu. Vom CDU-Parteitag muss das Signal ausgehen, dass die Union das Thema jetzt entschlossen anpackt", teilt die CDA-Chef Karl-Josef Laumann mit.

Auch die Finanzpolitiker in den Bundesländern fordern eine Entlastung noch in dieser Legislaturperiode. "Der Abbau der kalten Progression muss noch in dieser Wahlperiode beschlossen werden. Es geht um die Verhinderung automatischer Steuererhöhungen, sodass sich die Frage nach der Gegenfinanzierung überhaupt nicht stellt", sagt Mike Mohring, Vorsitzender der haushalts- und finanzpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktionen in den Ländern.

Auf die Bremse treten die CDU-Länderfinanzminister. "Alle Anstrengungen von Bund und Ländern sind derzeit auf Haushaltskonsolidierung gerichtet. Die finanziellen Spielräume sind mit der November-Steuerschätzung nicht größer geworden", sagt Hessens Finanzminister Thomas Schäfer (CDU), der die unionsgeführten Länder koordiniert. Das Problem solle zwar angegangen werden. "Bei allen Überlegungen sollte in dieser Wahlperiode aber die Schuldenbremse eindeutig Priorität haben", so Schäfer.

CDU-Bundestagsfraktionsvize Ralph Brinkhaus spielt den Ball den Ländern zu. Vor zwei Jahren erst sei ein Anlauf der Union im Bundesrat gescheitert. "Ich habe bisher kein Signal gesehen, dass der Bundesrat seine Meinung geändert hat." Damals hatten sich die SPD-Länder gegen einen Abbau der kalten Progression gestellt. Heute allerdings wirbt SPD-Parteichef Sigmar Gabriel vehement für eine Korrektur – und die Union erscheint als Bremse.

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Quelle:

Eigene Anmerkung: Die "Begriffserläuterung für kalte Progression auf Wikipedia" wurde von mir eingefügt und ist im Originalartikel nicht enthalten.

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